Der Atlantik ruft – von San Sebastián nach Lissabon

Das Chaos vor der Abfahrt

Mein Ticket für den Bus nach San Sebastián habe ich online gekauft. Alles geplant. Ich stehe also am Bahnhof, ziehe meinen Koffer hinter mir her, und versuche mich zu orientieren. Wie hiess die Busfirma noch gleich? Irgendetwas mit „Euro“ oder „Iber“ – oder doch ganz anders? “busbud” sagt mir das Ticket. Ich frage die Frau am Kiosk. Sie meint, die Busse würden direkt vor dem Eingang halten. Einfach. Klar.

Da kommt auch schon ein Bus – zehn Minuten über der Zeit. Er hält aber nicht vor dem Eingang, sondern auf der anderen Seite von Bahnhofplatz und Strasse. Keine Beschriftung, kein Ziel angeschrieben, niemand drin. Nur der Fahrer. Könnte das meiner sein? Ich schnappe meinen Koffer, rüber über den Platz, über die Strasse – und in dem Moment fährt er auch schon weg.

Okay, also doch ein anderer Bus? Oder doch der richtige? Wo soll ich jetzt warten? Hier? Oder doch drüben? Ich frage noch jemanden. Der Bus fährt angeblich vor dem Bahnhof ab. Also wieder zurück, über die Strasse, über den Platz. Warten. 20 Minuten über der Zeit. Das war’s dann wohl.

Ich gehe zum Schalter, um Klarheit zu bekommen. Vorhin war da eine Schlange, und ich wollte den Bus ja nicht verpassen. Jetzt ist der Schalter zu. Einfach zu. Tief durchatmen. Was bleibt mir? Ich nehme den Zug. Das Ticket löse ich online.

San Sebastián und die Pintxos-Kultur

Etwas später als gedacht komme ich in San Sebastián an. Mit dem Zug klappt es letztendlich gut. An der Grenze hält der Zug auf der französischen Seite. Alle steigen aus. Und jetzt?

Ich ziehe meinen Koffer vom Bahnsteig und schaue auf Google Maps. Aha, ein anderer Bahnhof. San Sebastián liegt nur wenige Kilometer entfernt, aber wie komme ich dorthin? Ich werde zum Mitläufer. Eine grössere Gruppe Reisende bewegt sich zielstrebig in eine Richtung, also schliesse ich mich an. Nach ein paar Minuten entdecke ich die Anschrift der spanischen Station. Alles gut. Der Moment der Unsicherheit löst sich auf, und ich bin froh, endlich die letzte Etappe meiner Fahrt nach San Sebastián unter die Räder nehmen zu können.

Die Fahrt führt mich am Ende durch ein immer enger werdendes Tal hinunter. Der Bahnhof von San Sebastián wirkt auf mich ein wenig bedrückend – steile Hänge auf der einen Seite, Häuserschluchten auf der anderen. Ich hatte das weite Meer erwartet und finde mich stattdessen umgeben von steinernen Fassaden und einer Felswand. In einer der Strassenschluchten entdecke ich schliesslich mein Hotel, checke kurz ein und mache mich sofort auf den Weg Richtung Meer.

Nach ein paar Hausecken erreiche ich die Uferpromenade – und plötzlich öffnet sich der Blick. Die Weite der Bucht von La Concha empfängt mich mit einem Anblick, der für den etwas schroffen Einstieg mehr als entschädigt. Die Promenade ist lebendig, Spaziergänger ziehen sich wie ein ununterbrochener Strom die Strandlinie entlang. Manche laufen auf der Promenade, andere unten direkt am Wasser. Was für eine Stimmung.

Ich lasse mich treiben, spaziere entlang des Strandes La Concha bis zum alten Hafen und dann weiter in die Altstadt. Die Bucht ist von unterschiedlichsten Gebäuden gesäumt: Belle Époque-Villen, die von der Zeit erzählen, als San Sebastián ein mondäner Badeort war, wechseln sich mit modernen Fassaden ab. Die Altstadt, mit ihren engen Gassen und den alten Steinhäusern, wirkt mittelalterlich und charmant. Hier bin ich richtig. Bars gibt es an jeder Ecke, und die berühmte Pintxos-Kultur ruft.

Collage aus Fundstücken in Kombination mit Schrift und Zeichnung
Collage aus Fundstücken in Kombination mit Schrift und Zeichnung
Pintxos probieren

Natürlich will ich sie ausprobieren. Pintxos, oder Pinchos, diese kleinen Kunstwerke aus Brot und Belag, die oft mit Fisch oder Meeresfrüchten dekoriert sind. In den Bars reihen sich die Teller wie in einer Ausstellung auf der Theke, und ich wähle zwei, drei aus. Ein Glas Wein dazu – perfekt. Alles frisch, alles köstlich. Ich bin sofort begeistert. Wie damals bei den Fischbrötchen in Hamburg komme ich hier von diesen Dingern nicht mehr los.

So ernähre ich mich während meines Aufenthalts fast ausschließlich von Pintxos. Was mir dabei entgeht, wird mir erst später bewusst: San Sebastián hat eine der besten Gastronomien der Welt. Nur Kyoto soll eine grössere Dichte an Michelin-Sterne-Restaurants haben. Tja, verpasst. Andererseits war das für mein Portemonnaie wohl besser so.

Das Baskische und seine Geschichte

San Sebastián ist durch und durch baskisch. Die Stadt heisst auf Baskisch Donostia, und die Strassenschilder, Institutionen und Schulen spiegeln diese Identität wider. Schon als Jugendlicher habe ich vom Baskenland gehört – vor allem durch die Autonomiebestrebungen. Die separatistische Organisation ETA, in Zeiten des Franco-Regimes entstanden, hatte Bestand bis vor wenigen Jahren und setzte sich auch mit Gewalt für die Unabhängigkeit und die Bewahrung von Kultur und Sprache ein. Über 800 Menschen sterben bei Anschlägen, Entführungen und anderen Verbrechen. Die Forderungen der ETA nach einem unabhängigen Staat, der das spanische und französische Baskenland vereint, stossen auf heftigen Widerstand der Regierungen in Madrid und Paris. Erst ab den 1990er Jahren beginnen ernsthafte Verhandlungen. 2018, nach Jahrzehnten des Konflikts, erklärt die ETA ihre vollständige Auflösung.

Heute ist das Baskenland eine autonome Gemeinschaft Spaniens. Neben Spanisch ist Baskisch Amtssprache, und in San Sebastián ist die Sprache präsent wie kaum anderswo. Trotz der politischen Fortschritte bleibt die Lage jedoch komplex. Viele Forderungen der Basken sind nicht oder nur zum Teil erfüllt. Doch das Morden hat ein Ende.

Nach meinem ersten Tag in San Sebastián spüre ich, wie sich die Stadt öffnet – das Meer, die lebendige Kultur, die Geschichte. Die Felswand und die Enge des Bahnhofs scheinen plötzlich weit weg. Die Menschen, die Bucht, die Pintxos, das Baskische – alles zusammen ergibt eine Atmosphäre, die ich nicht erwartet hätte. Was ich hier finde, ist nicht nur ein Ort, sondern auch ein Gefühl: lebendig, verwurzelt und irgendwie kraftvoll. 

Bei einem ausgedehnten Strandspaziergang geniesse ich die Aussicht auf die Häuser und das Meer und beschliesse schliesslich, die Christusstatue auf dem Hügel zur rechten Seite noch zu besuchen. Von oben bietet sich mir dann ein atemberaubender Blick auf die Stadt und die Bucht von La Concha. Ich lasse die Weite und die Schönheit des Ortes noch einmal auf mich wirken. 

Übrigens: Gerne hätte ich noch reingeschaut in den Impact Hub im Tabakalera. Das Tabakalera ist ein Kunst- und Kulturhaus, angesiedelt in einer alten Tabakfabrik. Doch leider ist geschlossen. Ist ja auch Sonntag. 

Porto - ein Streifzug durch die Stadt

Ich lasse mich treiben. Mal wieder. 

Der Morgen ist frisch, ich trete vor die Tür meiner aktuellen Bleibe, tief einatmend. Die Stadt liegt vor mir, das Abenteuer kann beginnen. Und ich frage mich: In welche Richtung? Manchmal habe ich eine Idee, ein Ziel, das ich sehen möchte. Wann oder ob ich dort auch ankomme, bleibt offen. Und manchmal werden aus dem Zufall die besten Begegnungen.

Also streife ich durch die Stadt. Wie ein “Stadtindianer”, wenn der Ausdruck in diesem Zusammenhang noch erlaubt ist. Ich nehme eine Fährte auf. Einmal um die Ecke gebogen, entdecke ich ein Gebäude, eine Gasse, eine Menschenmenge, die meine Aufmerksamkeit erregt. Plötzlich bin ich mitten im Geschehen, Teil eines Bildes, eines flüchtigen Augenblicks. Da ich oft allein reise, sind es gerade diese Momente des Eintauchens, des Teilwerdens, die mir das Gefühl geben, verbunden zu sein – mit allem, was gerade um mich herum geschieht. Manchmal ist es auch die unerwartete Stille, die sich mir in einer Nebengasse öffnet und Verbindung sucht mit mir. Hier ein eher verfallenes Gebäude, umrankt von einer buschigen Pflanzenpracht, da eine verblichene Anschrift, die weit in die Geschichte dieses Ortes zurückblicken lässt.

Erkunden und Erforschen

Unterwegssein ist Bewegung. Im Innen und im Aussen. Wenn ich in einer mir unbekannten Stadt so unterwegs bin, bin ich ganz präsent. Voll im Film. Meine Gedanken wandern mit den Menschen, die mit mir gehen oder an mir vorbei ziehen. Ich spinne Geschichten, stelle Hypothesen auf, die ich manchmal löse, manchmal verwerfe. Ich frage mich ständig Sachen, suche Antworten beim näheren Herangehen. Es ist dieses Erkunden, dieses Erforschen, das mich immer wieder fasziniert und in den Bann zieht. Oft bleibe ich stehen, lasse mich einnehmen von einer Ansicht oder einer Szene, die sich mir gerade bietet. Das sind dann die Momente, in denen ein Foto entstehen kann. Oder ich schaue zurück. Wo komme ich her? Was zeigt sich im Rückblick? Und manchmal tauchen Gedanken auf, angeregt durch gerade Erlebtes, die etwas anrühren, das sich in meinem Inneren eingenistet hat. 

Ich spüre, dass ich in diesen Momenten ganz in meinem Element bin. Ich bin unterwegs in einem Tempo, das mir behagt. Fahren, ob jetzt mit dem Fahrrad oder mit dem Auto, ist mir schnell einmal zu schnell. Ich kann nicht so frei verweilen, ich kann nicht genauer hinschauen, wann ich gerade will. Darum liebe ich es, gerade auch in Städten, zu Fuss unterwegs zu sein. Eine Fahrradtour kann ich mir nicht vorstellen. Zu sehr wäre ich abgelenkt vom Verkehr. Natürlich nutze ich auch öffentliche Verkehrsmittel, um mal grössere Distanzen zu überwinden, oder wenn ich ein ganz spezielles Ziel anvisiere. Doch auch hier: Ich bevorzuge natürlich die Strassenbahn, oder den Bus. Klar! Auch auf solchen Fahrten gibt es viel zu sehen. 

Reise durch die Nacht

Porto ist die Station, wo ich gerade Halt mache. Die Fahrt mit dem Nachtbus ist eine Tortur. Mit ziemlicher Verspätung losgefahren, erreiche ich Porto nach sieben Stunden Fahrt früh am Morgen. Ich bin etwas verwirrt. Zu spät losgefahren und doch so früh vor Ort. Mein Handy zeigt eine andere Uhrzeit an als die digitale Anzeige im Bus. Egal. 

Auch sonst funktioniert nicht alles nach Wunsch auf diesem Trip durch die Nacht. Der sich hinzieht.

Ich hadere lange mit der Entscheidung: Soll ich durch die Nacht reisen, um einen zusätzlichen Tag in Porto zu gewinnen? Oder doch tagsüber fahren und die Facetten der Landschaft auf mich wirken lassen? Schliesslich entscheide ich mich für mehr Zeit in Porto – und bezahle dafür den Preis.

Schon am Busbahnhof in San Sebastian fällt mir unter den Wartenden ein Riesenkoloss auf. Der an ihm hängende Rucksack erscheint klein, dafür wirken die Kranarme richtig mächtig. “Der braucht zwei Sitze”, denke ich mir noch. Wie der Bus endlich da steht, verstaue ich meine Koffertasche im Laderaum. Du ahnst, was kommt? Genau. Der Turm sitzt nicht nur in meiner Reihe. Nein, er hat sich auch noch meinen reservierten Platz geschnappt. Und neben ihm thront der nicht mehr so klein scheinende Rucksack. Shit. Der Bus ist voll. Meine Zeichen sind freundlich, dann etwas bestimmter: “Sorry! Das ist mein Platz.” 

Er hievt den Rucksack weg und will ihn schon zwischen seine Beine stopfen. Ich solle mich doch neben ihn setzen, deute ich sein Zeichen. Ich mache aber deutlich: “Reservado!” “Numero 36!” Mein Platz ist der Fensterplatz. Hinter mir und vor mir stauen sich weitere Eingestiegene. Er hat verstanden. Gott sei Dank. Er schält sich raus aus dem engen Gestühl, packt seinen Rucksack und macht mir Platz. Ich rein und denke noch, “vielleicht suchst du dir ja einen anderen Platz". Aber nein. Er quetscht sich in seiner ganzen Fülle neben mich. Und der Rucksack zwischen die Beine. Die Sitze sind richtig ausgesessen, Armlehnen gibt es keine. Zum Glück bin ich jetzt auch nicht gerade der schmalste Wurf. Also mache ich mich breit. So breit ich eben kann. Doch: Keine Chance. Er scheint nicht “verry amused”. Powerplay? Ich weiche zum Fenster aus. Und er hinterher. Und schon fahren wir in die Nacht hinein. Die Strecke ist kurvig. Mein Beifahrer schläft ein und schwenkt aus. Immer wieder. Wir machen Zwischenstation. Einige steigen aus, andere kommen dazu. Er bleibt. Frühmorgens erreichen wir Porto. Mit deutlich weniger Schlaf, als ich mir vorgestellt hatte.

Und die Uhrzeit? Es dämmert nun auch mir. Natürlich. Zeitumstellung. Ich bin in einer anderen Zeitzone gelandet: Westeuropäische Zeit. Uhren bitte um eine Stunde zurück stellen. 

Bummel durch Porto

Als “Treibholz” lande auch ich schliesslich am Hafen unten. Der Douro empfängt mich – ein Fluss, der aus dem Herzen Portugals kommt, eine berühmte Weingegend formt und sich durch Porto schlängelt, unter mächtigen Brücken hindurch, Richtung Meer. Magisch zieht mich der Uferbereich an. Gassen, Restaurants, die imposante Brücke Ponte Luis I, diese massive Eisenkonstruktion, die sich über den Douro spannt. Und überall Menschen. Auf der Brücke, an den Ufern, auf den Booten. Es ist ein Gewusel, ein großes Puppenspiel des Lebens. Einfach fantastisch, diese Aussicht von der Brücke in das Hafengelände hinunter. Auf der linken Uferseite rufen die riesigen Anschriften die Menschen in die weltberühmten Portweinkeller. Und eine Gondelbahn schaukelt hoch bis zum Brückenkopf.

Ich mittendrin. Mal Teil des Treibens in den Marktständen und Restaurants, mal auf der Brücke stehend, mal stiller Beobachter mit einem Glas Portwein in der Hand, beim Sonnenuntergang, in einer kleinen Kneipe, nahe der Schiffsanlegestelle. 

Es ist der Douro, es sind die Hügel, die diese Stadt so speziell machen. Und es ist das Raue, eher Ungeschliffene, das Porto von Lissabon unterscheidet. Lissabon, die Stadt, die ich anschliessend besucht habe und zu der ich auch ein paar Gedanken teilen werde. Doch zuerst:

Nazaré und die Monsterwelle

Es ist nicht der Nachtzug, der mich in die portugiesische Hauptstadt bringt. Ich versuche es noch einmal mit dem Bus. Diesmal mit Zwischenhalt und einer Tagesfahrt. Einiges gehört hatte ich von Nazaré, dem Küstenstädtchen irgendwo zwischen den beiden Städten. Nicht unbedingt wegen landschaftlicher Schönheit. Es ging da eher um die riesigen Wellen, die es dort geben soll. Um das Surfermekka, das da entstanden ist. Nicht, dass ich selber Ambitionen hätte. Über erste Versuche mit kurzem Brett mit meinen Jungs bin ich nie hinausgekommen. Gleichwohl: Surfen hat etwas Faszinierendes. Dieses Gleiten auf oder schon fast vor der Welle hat eine grosse Eleganz und Geschmeidigkeit. Wenn Mensch es kann. In Biarritz und San Sebsatian gab es auf jeden Fall schon einiges zu bestaunen. Nun also die vielgepriesene Meisterprüfung. Der Gwunder führt mich rasch raus aus dem neuen Nazaré der Hotels rauf in den alten Ortsteil auf der Klippe. Hier erwartet mich eine wundervolle Aussicht, aber leider nicht die Monsterwelle. Wie ich nach einem kurzen Spaziergang in einem kleinen Museum zuvorderst auf der Klippe nachlesen kann, entsteht diese Welle durch eine passende Meeresströmung und durch die Kanalisierung des Wassers in einer unter Wasser liegenden riesigen Felsspalte. Doch an diesem Tag produziert das Meer halt nur die normalen Wellen. Auch zum Surfen. Aber nicht für die Cracks. Entschädigt werde ich von einer einzigartigen Abendstimmung und dem Sonnenuntergang über dem Meer. 

Lissabon - Miradouros, ein Labyrinth von Gassen und Eusebio

Ist diese Stadt die grosse Schwester von Porto? Irgendwie schon. Etwas zurückhaltender, etwas nobler, sich ihrer Wirkung aber ganz bestimmt bewusst. Faszinierend, wie hier Widersprüche wie Alt und Neu, Arm und Reich, Tradition und Moderne ineinander greifen. Ruhigere Orte wechseln sich mit Gassen und Strassen, wo emsiges Treiben herrscht. Und laut wird es, wenn die nostalgischen Strassenbahnen vorbei rumpeln. 

Unterwegs sein - ein Gefühl von Freiheit

Wenn ich von einer Miradouro (Aussichtsplattform) über die roten Dächer von Alfama über den Tejo schaue, überkommt mich ein Gefühl von Freiheit. Vielleicht ist das auch schon Kolumbus so ergangen, geht mir durch den Sinn. Lissabon war für Kolumbus eine wichtige Station in seinem Leben. Die Stadt prägte ihn als Seefahrer und Denker und war ein Ort, an dem er entscheidende Fähigkeiten für seine späteren Reisen entwickelte. Obwohl Portugal seine Pläne ablehnte, trug die maritime Kultur des Landes wesentlich zu seiner Ausbildung und seinen Ideen bei.

Ich war etwas im Clinch. Eine gute Freundin und Lissabon-Kennerin hat mir von vielen spannenden Spots erzählt und sie mir auch gleich auf Google Maps übertragen. Doch es ist eben nicht in meiner Natur, diese nun irgendwie abzulaufen. Gleichwohl stehe ich jetzt schon relativ früh am Morgen auf diesem Aussichtspunkt, oberhalb des Quartiers Alfama. Die Aussicht und die Stimmung sind herrlich. Dieses Licht! Wahnsinnig. Intensive Farben und glasklare Sicht. Ich bin einfach nur begeistert. Ich suchte, losgehend von meinem Quartier, einen Weg auf den nächstgelegenen Hügel. Wenn möglich durch Gassen, die nicht schon von Touristen bevölkert sind. Ist wunderbar gelungen. Und ich finde mich an einem Ort, der mir auch empfohlen wurde. 

In ähnlicher Weise durchwandere ich nun an zwei Tagen die Viertel, die im touristischen Zentrum von Lissabon nahe beieinander liegen. Wenn ich mir jetzt die gemachten Fotos so anschaue und versuche, mich noch einmal in meine Stimmung und mein Unterwegssein in Lissabon zu versetzen, wird mir bewusst, wie ich es aufsauge, Orte zu erkunden, die mir vollständig neu sind. Ich bin dann nicht in einer Stadt, um mir dies oder das zu besorgen, auch nicht, um unbedingt diese oder jene Sehenswürdigkeit zu besuchen. Interessen ergeben sich, artikulieren sich mit dem Eintauchen und Eingehen in diese fremde Umgebung. 

Auch merke ich immer wieder, und hier in Lissabon ist das nicht anders, dass ich einen Ort auf- und einnehmen muss, damit sich bei mir Fragen oder ganz bestimmte Interessen entwickeln. Dann bin ich bereit, näher zu forschen, bestimmte Orte auch zu besuchen, mich speziell auf Dinge zu achten. 

Zufälliges und berraschendes

Etwas, das es mir angetan hat, ist das zufällige Erkunden von Strassen, Gassen, Gebäudekomplexen, Kombinationen von Häusern, von Farben, von Stilen. Ich habe in einer Fotocollage ein paar Eindrücke von unterwegs zusammengeführt. Darum sicher auch das so geliebte Treibenlassen. In Lissabon sind es zusätzlich die Miradouros, die mich anziehen. Ich renne jedoch nicht einfach an diese Orte, sondern die Ralley durch verschiedene Gassen führt mich unweigerlich immer wieder zu einem solchen Punkt. Wie schön dann dort, bei einem Kaffee, die Eindrücke des Spaziergangs schon etwas zu sammeln und zu sinnieren, sich als Anonymer mit Anonymen zu verbinden, die Energie zu spüren, die Stimmung zu geniessen und eigene Gedanken in Erkenntnissen kumulieren zu lassen. Es ist der Gedankengang nach dem Gang. Und diese Zeit zu haben, sich diese Zeit nehmen zu dürfen, erachte ich in solchen Momenten als riesiges Geschenk. Ein Geschenk, das mich durchdringt und mir gut tut, bis in die innersten Fasern. Glücklich, wem das auch ab und zu so ergehen darf. 

Natürlich führen mich meine Streifzüge auch an die Orte, die Mensch gesehen haben muss in dieser wunderbaren Stadt. Und natürlich fallen mir noch einmal die sehr unterschiedlichen Baustile auf, die sich hier im Kern der Stadt versammeln. Und mir wird Geschichtliches bewusst, auf das ich in einem Gespräch schon vor der Reise aufmerksam gemacht worden bin. Es passt in die Zeit, dass wir uns zunehmend mit extremen Wetterereignissen auseinandersetzen müssen. Wenn wir wissen, dass die meisten dieser Ereignisse mit der menschgemachten Veränderung des Klimas zu tun haben, ist die Ursache des Ereignisses, das Lissabon im Jahr 1755 heimsuchte, bis heute nicht restlos geklärt. 

Erdbeben und Tsunami

Es ist die schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte Europas: Ein Erdbeben mit der unglaublichen Stärke von 8,7 erschütterte am 1. November die Gegend um Lissabon. Urplötzlich taten sich fünf Meter breite Erdspalten auf, 18000 Häuser stürzten ein, Feuer breiteten sich aus. Innerhalb von zwei Minuten starben 25000 Menschen. Dann kam der zweite Schock: Über den Atlantik rollte eine fünf bis zehn Meter hohe Riesenwelle an. Der Tsunami, ausgelöst durch die bebende Erde, forderte 20000 Opfer. Insgesamt riss das Beben mehr als 60000 Menschen in Europa sowie im Norden Marokkos in den Tod.

Grosse Teile von Lissabon waren zerstört. Wenn die mittelalterlichen Steinhäuser in den an den Hügeln liegenden Vierteln Alfama und Bairro Alto noch einigermassen glimpflich davon gekommen sind, wurden die nicht schon zerstörten Holzhäuser Opfer der anschliessenden Feuersbrunst, die sich weit über die Stadt verbreitete. Ein Desaster. Als Handelsmetropole war Lissabon damals die viertgrösste Stadt Europas gewesen. 

Diese Geschehnisse sind Grund für die Tatsache, dass Lissabon vor allem auch in der Talebene komplett neu aufgebaut werden musste. Das heute schachbrettartige Muster von Strassen und Gebäudeblocks im etwas moderneren Stadtteil Baixa ist Zeuge dieses Wiederaufbaus. 

Lieblingsorten auf der Spur

Bevor ich diesen zweiten Teil meines Reisejournals zum Abschluss bringe, möchte ich noch zwei Abstecher erwähnen, die sich für mich gelohnt haben. Nachdem ich das eine etwas verborgene Viertel Graça mit dem wunderbaren Miradouro da Senhora do Monte eher zufällig auf einer meiner frühmorgendlichen Erkundungstouren entdeckt habe, habe ich dann das Viertel Alcântara am anderen Ende der Innenstadt ganz bewusst angesteuert. Dieser Stadtteil befindet sich gleich unter der gigantischen Hängebrücke des 25. April. Der eindrückliche Brückenzug ist mehr als 3 Kilometer lang und wird, auch wegen seiner roten Farbe, gerne mit der Golden Gate Bridge in San Francisco verglichen. 

Spannend ist es für mich, in den besuchten Städten immer auch Kunstorte zu besuchen. Dabei faszinieren mich gar nicht unbedingt die jeweiligen Topadressen. Schön anzusehen ist zum Beispiel Street Art, die sich in bestimmten Quartieren oft an verschiedenen Hauswänden zeigt (auch in Lissabon) oder dann Kunst- und Kulturorte, die sich an Orten eingenistet haben, die für mich echt urbanen Charakter haben. Seien das nun Hinterhöfe, ehemalige Industriebauten oder alte Hafenanlagen. Die LX Factory, ein vergessenes Fabrikgelände, erfuhr ab 2012 eine Wiedergeburt, weil sich in den zum grossen Teil im ursprünglichen Zustand gelassenen Gebäuden neu Start ups sowie Agenturen und Studios aus verschiedenen Branchen ansiedelten, Bars, Cafés und Restaurants eröffneten. Künstler kamen dazu und mit ihnen auch die Street Art. Es entstand eine Insel der Kreativität, zum Reinschmökern, zum Verweilen. Ein Juwel die Buchhandlung Ler Devagar, mit riesigen Bücherregalen bis hoch unters Dach. Die lockere Atmosphäre und das Unfertige hat mir hier sehr gefallen. 

Die letzte Begegnung mit der Stadt hat jetzt noch mit Sport zu tun. Fussball. Darf in Lissabon natürlich nicht fehlen. Zwei grosse europäische Vereine prägen das Sportgeschehen. Es handelt sich um Benfica und Sporting Lissabon. Die Namen von zwei der besten Fussballer der Welt sind verbunden mit den beiden Vereinen. Da wäre mal ein gewisser Cristiano Ronaldo, der die Juniorenabteilung von Sporting durchlief und dann schon als sehr junger Spieler zu Manchester United wechselte. Und der andere? Eine portugiesische Legende. Eusebio. Spielte als torgefährlicher Stürmer 15 Jahre bei Benfica und natürlich in der portugiesischen Nationalmannschaft.  Als Bub durfte ich im Restaurant meiner Grosseltern die Spiele der WM 1966 in England schauen. Hier hatte er seinen grossen Auftritt, wurde mit der Mannschaft dritter und Torschützenkönig. Ab da war Eusebio mein grosses Idol, flankiert von George Best, einem anderen grossartigen Stürmer aus dieser Zeit.
Darum reserviere ich mir diesen Tag. Einerseits um das tolle Stadion zu besuchen und natürlich vor allem, um im Museum mal wieder Eusebio zu begegnen. Es ist sehr berührend. Ich verweile lange, total versunken in all die alten Geschehnisse, Beschreibungen, Interviews, Spielsequenzen. Toll! Und noch etwas. Hatte ich gar nicht auf dem Schirm. Benfica und Sporting stehen nicht nur für Fussball. Eine Vielzahl andere Sportarten sind in diesen Vereinen organisiert. Das geht von Radfahren und Ringen bis zu Judo, Badminton, Tennis, Volleyball, Basketball, Rugby etc.
Dass die riesige gläserne Vitrine für alle Pokale im Benfica-Museum über mehrere Etagen geht, versteht sich von selbst. 

Die Berühmtheit par Excellence

So. Und ich sage gar nichts zur weltberühmten Strassenbahn? Vor allem auch zu Linie 28? Nun gut. Ich habe es versucht. Habe mir die Schlange der Anstehenden zweimal beim Vorbeigehen angeschaut. Nein. So wichtig ist mir das nun nicht. Und doch. Warum nicht bei der Endstation einsteigen? Und da diese nicht so weit weg liegt von der  LX-Factory, versuche ich es. Doch: Keine Strassenbahn bei der Station am Friedhof Prazeres. Gut, dann warte ich mal. Ein kleiner Bus steht etwas abseits bereit. Wie der Chauffeur ihn öffnet, frage ich nach wegen der Strassenbahn. “Keine Strassenbahn, Ersatzbus, die Geleise werden heute repariert.” Okay, das sollte dann offenbar wirklich nicht sein. 

Ich schreibe diese Zeilen auf meiner mittlerweile dritten Station der Reise über die kanarischen Inseln. Im Moment bin ich auf Fuerteventura. Wenn du mehr von meinen Begegnungen und Gedankengängen auf dieser und anderen Inseln erfahren möchtest: Es gibt einen dritten Teil des Reisejournals. Bald. 

Vielen Dank für dein Interesse!