Gewagt? Übertrieben? Ein Künstler, eine Künstlerin? Du? Ich?
Die Aussage im Titel dieses Blogs ist mir begegnet, als ich mich selber gefragt habe, was mich befähigen soll, für ein im Effinger Coworking Space organisiertes Kunstfestival eine Collage zum Colearning herzustellen. Was macht denn den Menschen zum Künstler? Zum Kunstschaffenden? Zum kreativen Gestalter? Falsche Frage, merke ich. Wenn jeder Mensch ein Künstler ist, dann muss man ihn nicht dazu “machen”. Würde es reichen, ihn einfach so zu lassen, wie er ist? Ein künstlerischer Persönlichkeitstyp wird als jemand beschrieben, der seine Hände und seinen Verstand gebrauchen kann, um neue Dinge zu kreieren. Diese Menschen sind offen, enthusiastisch, impulsiv, experimentierfreudig, unabhängig und kreativ. Genau wie es Kinder sind - meistens. Und Erwachsene? Schon Picasso meinte: “Als Kind ist jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener einer zu bleiben.” Ach ja. Aber wie denn? Wenn Konditionierung, Anpassung, Containerqualitäten und Abschlüsse die Werte sind, auf die Bildung abzielt und Kinder und Jugendliche eine Schul- und Ausbildungszeit lang darauf getrimmt werden? Vielleicht ein Überlebenskünstler, eine Lebenskünstlerin in diesem System?
Mir reicht das nicht. Darum: Lass uns rückbesinnen auf das, was uns wirklich ausmacht, auf unsere Gestaltungskraft und uns auf folgende Fragen konzentrieren:
Wie schaffen wir es, uns Neugier und Entdeckungsdrang zu bewahren? Wie gelingt es uns, dem konformen Reproduzieren immer wieder ein lustvolles Ausprobieren entgegenzusetzen? Wie erkennen und nutzen wir Freiräume, die kreatives Handeln ermöglichen? Wie befreien wir uns von den Fesseln der Lehre, der Schulung, des Studiums, der Vermittlung, der “Weiterbildung von der Stange” und werden wieder frei für natürliches, selbstbestimmtes Lernen?
Ich denke, gerade künstlerisches Schaffen und selbstbestimmtes Lernen haben sehr viel miteinander zu tun. Und beide bieten Antworten auf die obigen Fragen. Ob daraus Lösungen erwachsen? Es ist an uns, es anders zu tun.
So liesse sich die Aussage von Picasso leicht verändert - und etwas pessimistisch - vielleicht so interpretieren, dass wir alle als kleine Kinder mit Freude lernend unterwegs sind, schon als noch junge Erwachsene jedoch oft vor der Schwierigkeit stehen, dass Lernfreude und Lernmotivation auf dem Weg durch die Schul-und Ausbildungszeit auf dramatische Weise abhanden gekommen sind. So wirkt die Verheissung des Lebenslangen Lernens oft nur noch als Drohung. Kein Wunder. Die freudvolle Kunst des Lernens ist verloren gegangen und ist verdrängt worden durch die demotivierende Knechtschaft des Reproduzierens, der Notendurchschnitte und der ECTS-Punkte. Durchkommen ist Hauptsache. Was für ein Desaster! Eigentlich keine gute Voraussetzung, um kreativ und in spielerischer Form an Neues heranzugehen und auf eigene Stärken zu vertrauen. Doch ein Verlernen und ein Dazulernen ist immer möglich.
Kunst und Lernen - eine schöpferische Kraft
Colearning Bern will die künstlerische und kreative Variante des Lernens wieder zurück ins Leben und zu den Menschen holen. Wir schaffen einen FreiRaum und bilden eine Community, die zum Lernen auf eigenen Pfaden motivieren und ermutigen will. Selbstbestimmt bildend und gestaltend tätig sein eben. Und was will Kunst? Was hat Kunst mit unserer Idee des Lernens gemein? Irgendwie bin ich bei meinen Recherchen für meine künstlerische Aktion bei Joseph Beuys gelandet. Er ist ein deutscher Künstler aus dem 20. Jahrhundert. Oft provozierend in seinen Statements, Happenings und Installationen. Bekannt geworden ist er auch durch seine Diskurse über Kunst und was Kunst darstellen soll. Die Aussage im Titel stammt von ihm. Beuys meint, dass jeder Mensch als soziales Wesen eine schöpferische Kraft habe, um sich selbst und die Welt zu verändern. Und diese Kraft kann sich in unterschiedlichster Form zeigen. Zum Beispiel, wenn wir in kürzester Zeit ganz viel lernen, das uns brennend interessiert oder wir alleine oder gemeinsam mit anderen in künstlerischer Form Umwelt verändern oder andere Welten auferstehen lassen.
Auch wir Colearner:innen sind von der Wirkung dieser Kraft überzeugt. Wir malen jetzt nicht die grossen farbigen Bilder an die Wand. Oder gestalten Skulpturen aus unterschiedlichsten Materialien. Meistens nicht. Doch auch wir entwickeln und produzieren: Learnings, Wissen und Können, oft verpackt in ein Produkt, in eine Erfahrung, ein Erlebnis. Und wir gehen Wege, Lernwege, ähnlich einem künstlerischen Prozess. Irrungen, Umwege gehören dazu. Und wir lernen dazu, auch was das Lernen selber betrifft. Gewonnene Erkenntnisse finden Niederschlag in unseren Handlungen und führen zu einer sich verändernden Sicht auf das Lernen - und auf das Leben.
So gelingt es uns, auch im Angebot Colearning selber, immer wieder kreativ auf Veränderungen zu reagieren. Wir lernen dazu. Und bleiben nicht, wer und wie wir sind.
Ist das jetzt Kunst?
Diese Frage höre ich oft. Ist das jetzt Lernen? Diese auch. Und dahinter steckt die Erwartung, Unbekanntes dank bekannten Strukturen einordnen und messen zu können. Wo ist das Klassenzimmer? Wann ist die Pause zu Ende? Welche Lektion folgt jetzt? Fragen eines Journalisten einer namhaften Schweizer Zeitung, der uns kürzlich im Coworking Space Effinger besuchte. Und Colearning suchte. Also Schule. Er war verwirrt. Unser Selbstverständnis, dass Lernen auch für Jugendliche ohne all das Gefragte und Gesuchte funktionieren kann, verwirrte ihn noch mehr. Der Artikel erschien nie. Oder mindestens nicht mit Erwähnung des Colearnings.
Ich finde, Lernen hat viel mit Freiheit und Freiraum zu tun. Wie Kunst. Lernen ist ein ständiges Tüfteln, Ausprobieren, Hinterfragen. Lernen ist die Spur, die uns einem Ziel näher kommen lässt. Lernen passt nicht in eine fremdgesteuerte Struktur. Das Lernen entwickelt sich im Tun, im SelberTun. Es ist eine schöpferische Tätigkeit, wie eine künstlerische Aktion. Es geht um Gestalten, Umgestalten, Nachgestalten. Hinwerfen und Verwerfen. Im Handeln bekommt eine Idee Gestalt, Struktur, es wird sichtbar, was vorher vielleicht nur schemenhaft als inneres Bild vorhanden war. Kunst will sichtbar machen. Es ist gestalterisches Tun, das an die Oberfläche drängt, das sich zeigen will, das auf sich aufmerksam machen will, das zur Wahrnehmung und zur Auseinandersetzung auffordern will. Lernen will das auch. Und wie!
Lernen sichtbar machen
Wenn Colearning davon spricht, Lernen sichtbar zu machen, hat das ähnliche Beweggründe. Oft fristet Lernen ein Schattendasein, verblasst hinter dem Schein eines Produkts, das oft die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vor allem in Bildungskontexten. Das erworbene Wissen steht nach wie vor im Zentrum. Der Weg zum Ergebnis wird unbedeutend. Das Lernen, der Prozess bleiben buchstäblich auf der Strecke, wenig beachtet, weil die Bewertung des Produkts das Mass aller Dinge ist. Der Abschluss, die Note, die Bewertung.
Kann das die Kunst besser?
Ja und nein, glaube ich. Wenn ich in einem Museum stehe und sich all die Fertigprodukte um mich herum versammeln, bin ich zwar beeindruckt, ob der Gestaltung und der Wirkung des einen oder anderen Objekts, zugleich oft auch verloren, den Zugang zu ausgestellten Exponaten zu finden. Wie beim Lernen helfen Erläuterungen, Geschichten, einen Kontext herzustellen. Wenn ich bereit bin, mich mit einer Sache, einem Werk, der Autorin/dem Autoren vertiefter zu befassen, kann ich eher erfassen, was zum Ausdruck gebracht werden soll. Ich erkenne Zusammenhänge, Bewegggründe und es ergeben sich Entwicklungsstränge. Das vielleicht eher statische Endprodukt wird lebendig. Fragen tauchen auf, Erkenntnisse verfestigen sich, Geglaubtes verflüchtigt sich. Ich lerne! Ich verlerne! Ich lerne dazu! Ich erkenne, was gemeint ist, ich erfasse Aussagen und Botschaften. Und merke, was das Gesehene und Erlebte mit mir zu tun hat. Das Erlebnis wird ganzheitlich.
Lernerfahrungen teilen
Es sind diese Lernwege, die uns im Colearning interessieren. So versuchen wir die Lernprozesse immer wieder offenzulegen, zugänglich zu machen. Mit dem Endprodukt haben wir zwar das Ziel erreicht. Doch was haben wir unterwegs gelernt? Welches sind die Lernerfahrungen, die uns für zukünftige Herausforderungen kompetenter werden lassen?
Ein künstlerisches Endprodukt kann ich bestaunen. Mir gefällt die Komposition, die Ausführung und ich spüre die Wirkung, die es auf mich hat. Und meistens reicht das voll und ganz. Ab und zu möchte ich jedoch gerne mehr wissen. Über den Entstehungsprozess. Einen Einblick in die Kunstschmiede, ins Atelier, ins Kunstschaffen erhalten. Vielleicht sogar selber etwas lernen können. Will das Kunst? Dokumentationen bieten Gelegenheit dazu. Neuzeitliche Kunst entsteht oft in Echtzeit. Action ist gefragt. Installationen lassen uns Teil der Performance werden. Und so wird deutlich, dass auch Kunst, die mit Leichtigkeit und Eleganz daher kommt, eine grosse Portion harte Arbeit und intensives Lernen in sich birgt.
Das ist das, was wir voneinander lernen können, wenn wir einander unsere Produkte zeigen und an unseren Entstehungs- und Lernprozessen teilhaben lassen. Es geht nicht immer nur um konkrete Inhalte und Ergebnisse. Es geht nicht um Richtig oder Falsch. Es geht darum, wieder ein Gefühl für den Prozess des Lernens zu bekommen, ein Gefühl für das Auf-dem-Weg-Sein, das uns hilft, neue Handlungen mit bekannten zu verbinden, ein Gefühl, das uns wachsen und an uns glauben lässt.
Mein Making of - die Collage ist entstanden
Der gestalterische und kreative Prozess hat Wochen vor dem Kunstfestival mit dem Herumtragen der Idee, der Ideen gestartet. Mit der Zeit, die eine oder andere Skizze ist entstanden, entwickelt sich eine einigermassen realistische Ausführungsvariante. Ich beschreibe, überdenke, überarbeite, tausche mich aus. Welches Bild von Colearning will ich zeigen? Welche Aussagen beschreiben treffend, worum es uns geht? Ich sammle auf meinem iPhone Bilder und Texte. Ich finde in einer Ausstellung zwei Plakate, die ich einstecke und deren Rückseiten mir als Grundlage für meine Arbeit dienen. Recycling und vielleicht gar Upcycling. Bilder und Texte müssen nun in unterschiedlichen Grössen und Schriften ausgedruckt werden. Endlich: Das Rohmaterial ist vorhanden. Es folgt die Komposition, die Gestaltung: hinlegen, hin- und herschieben, aufnehmen, verwerfen. Das Aufkleben mit einem Spray schliesst die Aktion ab. Zuerst die Bilder, dann die Umrahmungen mit einem Filzstift, am Schluss die Textblöcke.
Und zu den Fragen?
Und wie lassen sich nun Neugier und Entdeckungsdrang bewahren, lustvolles Ausprobieren und kreatives Handeln fördern? Wie entkommen wir den Fesseln der Vermittlung und werden frei für selbstbestimmtes Lernen? Indem wir es tun. Anders lernen. Einfach machen. Zu uns passend. Auf uns zugeschnitten. Indem wir ganz viel von dem vergessen, was wir uns unnötigerweise angelernt haben. Lasst uns verlernen! Befreien wir uns von der Lehre. Werden wir wieder frei fürs Experimentieren, Forschen und Ausprobieren. Renaturieren wir das Lernen und bestimmen selbst, welche Inhalte uns interessieren und auf welchem Weg wir sie uns aneignen wollen. Entwickeln wir unsere eigene Kreation des Lernens. Werden wir zur Lernkünstlerin, zum Lernkünstler!
Wir sind es uns wert!