Ich mache mir in letzter Zeit viele Gedanken zu agilem Handeln, Arbeiten und Lernen. Die ganzen Entwicklungen rund um die Pandemie machen deutlich, wie sehr Menschen Halt und Orientierung brauchen und doch lernen müssen, dass Situationen extrem schnell ändern können und man sich auf eine neue Ausgangslage einlassen muss.
“Situationen können extrem schnell ändern.”
Ich lese interessiert, was darüber gerade so geschrieben wird. Natürlich auch im Zusammenhang mit Bildung. Das Buch “Agiles Lernen, neue Rollen, Kompetenzen und Methoden im Unternehmenskontext” (Graf, 2019) hat es mir besonders angetan. Spannend finde ich den Ansatz, dass Lernen nicht mehr in erster Linie als Vorbereitung auf die Berufskarriere gesehen wird, sondern neu, einmal aufgebaute Kompetenzen viel gezielter und bedürfnisorientierter aufs Individuum bezogen direkt im Berufshandeln (weiter)entwickelt werden sollen. Arbeiten und Lernen werden eins. Dies bedingt jedoch, dass Berufsleute nicht lediglich über Fachkompetenz verfügen, sondern diesen kontinuierlichen Lernprozess auch mit der nötigen Lernkompetenz selber steuern können. Es ist eine Hoffnung von mir, dass sich diese Erkenntnis und der sich entwickelnde Bedarf direkt auswirken wird auf das Lernen lernen in den Bildungshäusern. Diese wurden mit den Schulschliessungen im Lockdown nun schon mal kräftig durchgeschüttelt. Quasi von einem Tag auf den anderen waren sie gefordert, Fernunterricht mit digitalen Mitteln zu organisieren. Eine Umstellung, die schonungslos deutlich machte, dass einige Schulen und eine Vielzahl von Lehrenden zwar Informatik auf dem Stundenplan haben oder dieses Fach unterrichten, jedoch wenig darauf vorbereitet sind, SchülerInnen mit digitalen Instrumenten im selbstständigen Lernen zu unterstützen.
“Wir lernen gerade, dass wir „eigentlich“ nichts wissen.”
Mit der Corona-Pandemie und ihren Auswirkungen sind wir in eine Zeit hineingeraten, in der wir eigentlich schon lange sind. Wir verabschieden uns von einer stabilen Welt, mit klaren Massnahmen, Abläufen und Prinzipien. Unentschlossenheit ist schlimmer als mittelmässige Entscheidungen. Die Wahrheit gibt es nicht, es gibt Expertenmeinungen, politische Entscheide und vielleicht noch den gesunden Menschenverstand.
Wir lernen gerade, dass wir „eigentlich“ nichts wissen. Mindestens nichts Genaues, nichts absolut Klares und Unanfechtbares. Und damit gilt es leben zu lernen. Willkommen in einer Welt, in der die Dynamik von Veränderungen steigt, Unvorhersehbarkeit das Normale ist, die Zahl der Handlungsmöglichkeiten zunimmt und das Bild unserer Welt unscharf und auf verschiedenste Weisen interpretierbar wird.
“Man kann sich auf nichts mehr verlassen.”
Vor kurzem bin ich beim Stöbern im SRF-Archiv auf die Diskussionssendung Club gestossen. Sie dreht sich um die Auswirkungen von Covid-19 und um die Auswirkungen der Auswirkungen. Einige der Anwesenden arbeiten in stark betroffenen Branchen. Es fällt mir auf, dass der Begriff „Planungssicherheit“ immer wieder eingebracht wird. Es wird moniert, die oft recht kurzfristigen und zum Teil restriktiven Entscheide der Behörden führten dazu, dass man sich auf nichts mehr verlassen und an keinen Zusagen mehr orientieren könne. Eine Besitzerin eines Reisebüros sagt im Weiteren, eine Umorientierung komme für sie nicht in Frage, denn die zufriedene Kundschaft würde - bei einem Bestehen der Firma seit 1980 - beweisen, dass das Angebot nachgefragt sei…
“Hat bis jetzt immer funktioniert!”
Dieses Argument mag bis Corona noch einigermassen funktioniert haben. In der Komfortzone des nicht enden wollenden Konsums und der Ideologie “hat bis jetzt immer funktioniert!” war das Hinterfragen von gängigen Vorgehensweisen wenig beliebt. Doch die Zeit ist gerade eine andere und die Ausgangslage hat sich grundlegend verändert. Es gibt immer weniger einfache oder altbekannte Lösungen. Wir sind laufend gefordert, das eigene Verhalten zu überprüfen, Massnahmen im Sinne der Gemeinschaft mitzutragen und selber nach Handlungsmöglichkeiten in noch unbekanntem Gelände zu suchen.
“Wissen verliert an Macht.”
Mit Corona wird deutlich, was nicht nur Experten für die Zukunft vorausgesagt haben. Die untrüglichen Wahrheiten sterben aus. Autoritäten verlieren an Anerkennung und Wissen an Macht. Skills, wie Informationen zu deuten und zu gewichten, mit Unsicherheiten umzugehen, rasch Lösungen zu testen und aus den Erfahrungen zu lernen, gewinnen an Wichtigkeit.
Wir wissen längst, dass bei immer kleiner werdender Halbwertszeit des Wissens eine Pädagogik des „Rucksack fürs Leben packen“ und der reinen „Wissensvermittlung“ nicht mehr zielführend ist. Kontinuierliches oder agiles Lernen ist gefragt. Es geht um lebenslange Anpassungs- und Innovationsfähigkeit, Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit.
“Selber lernend ständig Lernen unterstützen.”
Das Colearning-Projekt im Effinger in Bern nimmt die Zielsetzungen des Agilen Lernens auf und bietet einfache Strukturen und grösstmöglichen Experimentier- und Entfaltungsraum. Die Colearner befinden sich in einer vielfältigen Coworking-Arbeitswelt und haben die Chance, sich im Austausch mit Berufstätigen und anderen Lernenden wichtige Lernkompetenzen anzueignen. Eine passende Fehler- und Lernkultur ist das Ziel. Wir haben in unserem Coworking Space eine Tür zu einer Lernwelt geöffnet, die selber lernend ständig Lernen unterstützt.
“Wir müssen ja innovativ werden in unserer Branche…”, meint die Frau vom Reisebüro schon fast trotzig gegen Schluss der Sendung. Da kann ich ihr nur zustimmen. Es kommt der Moment, wo man dann halt einfach muss.