So war das nicht geplant!
Ein persönlicher Rückblick auf ein unwirkliches Jahr und eine unvollendete Wanderschaft
Der Lockdown, mit der dringlichen Empfehlung, sich bald möglichst um die Rückreise in die Schweiz zu kümmern, erreichte mich in Santa Cruz auf Teneriffa. Das Hotel, in dem ich vor ein paar Tagen untergekommen war, bot nur noch einen minimalen Service. Alle Zeichen standen auf Schliessung.
Ich war froh, dass ich noch einigermassen problemlos eine Überfahrt von einer kleineren Insel der Kanaren hierher hatte buchen können. Das Bild, das mich hier erwartete, war ein gespenstisches: Leere Strassen und Restaurants, Tische und Stühle zusammengestellt, nur noch wenige Hotels geöffnet, Wartende vor nur noch stundenweise geöffneten Lebensmittelgeschäften und Apotheken. Verrückte Welt.
Noch vor wenigen Tagen hatte ich auf Gran Canaria einen ausgelassenen und farbenfrohen Karneval erlebt. Und jetzt patrouillierte Polizei in den Strassen und hielt an, wer sich raus wagte. Von den Balkonen wurde bereits ein erstes Mal tüchtig geklatscht.
Es ist erst gut eineinhalb Monate her, seit ich die Schweiz Richtung Frankreich verlassen habe. Ein Reisejahr sollte es werden. Nach der Kündigung meiner Anstellung an der Pädagogischen Hochschule in Bern verbunden mit einer vorzeitigen Pensionierung wollte ich für ein Jahr in die Welt hinaus ziehen. Mein erstes Ziel waren die Atlantikküste von Frankreich, die iberische Halbinsel und die Kanaren. Ich liebe das Unterwegs sein, das Erkunden von Neuem, das Durchstreifen von Städten und Landschaften, das Staunen, das Umhergehen und Er-fahren, das Überraschende und Unbekannte.
Ich spürte, dass ich nach Jahren des Engagements in verschiedensten Bereichen und Projekten mal wieder einen Moment des Nichts-Müssens und Alles-Dürfens brauchte. Auch schien meine Energie und Begeisterung endlicher zu werden. Das zu merken beruhigte mich nicht gerade. Die Griechenland-Aufenthalte im Vorjahr hatten nicht gereicht, die Batterien wieder richtig zu laden. Das Reisen sollte mir Gelegenheit geben, weit weg von den üblichen Abläufen und Verpflichtungen, Zeit, Musse und Raum zu finden, meine Lebenssituation zu überdenken und frei zu werden für Zukünftiges.
Auch wenn ich mit dem Effinger und der Community einen Hafen gefunden hatte, in dem ich mich wohl fühlte und wo ich mich in spannende Projekte eingeben konnte, war ich mir nicht sicher, ob diese Beschäftigungen auch mein Engagement für die nahe Zukunft sein würden. Irgendwie hatte ich vor allem das Thema Bildung etwas satt. Als jahrzehntelanger „Rufer in der Wüste“ brauchte es schon die spezielle Erfahrung mit dem Colearning-Projekt, um noch einmal die Zuversicht spriessen zu lassen, dass ausserhalb des behäbigen und selbstverliebten Bildungssystems alternative Formen des Lernens würden gelebt werden können.
Ich hatte die Entscheidung, die Zelte in Bern abzubrechen, eher vernunftorientiert getroffen. Neben dem Bereisen der bereits erwähnten Destinationen hatte ich vorgesehen, die Einladung zu einem Hochzeitsfest in Thailand und den Besuch von Freunden in Kuba jeweils als Ausgangspunkt für das Entdecken von weiteren mir unbekannten Ländern in der Nähe zu nehmen. Bei meinen Reiseplänen ergab es darum wenig Sinn, die relativ teure Wohnung in der Stadt zu behalten. Auch wenn ich wusste, dass ich nach meiner Rückkehr nicht gleich in einem urbanen Dorf würde wohnen können, war für mich doch klar, mich nach der Auszeit bald wieder in Bern anzusiedeln. So wollte ich mit dem Effinger unbedingt verbunden bleiben und profitierte von der Möglichkeit, für ein Jahr in den Status der Wanderschaft zu wechseln.
Ausgerüstet mit diversen Effianer-Glücksbringern machte ich mich Ende Januar auf die Reise. Das Wuhan-Virus war schon Thema, jedoch für mich nicht mehr als eine Meldung vom anderen Ende der Welt. Mit leichtem Gepäck und der Idee, auf einer ersten Tour etwa drei Monate unterwegs zu sein, zog ich los mit dem Zug Richtung Bordeaux. Was für ein tolles Gefühl, mit über 300 km/h durch die Gegend zu rasen. Bäume, Gebäude, Überführungen flitzten nur so vorbei und innert wenigen Stunden und einem kurzen Zwischenhalt in Paris, stand ich auf dem Bahnhofplatz der Stadt nahe dem Atlantik. Und das Erkunden, Umherziehen, Beobachten und Staunen konnte losgehen.
Ich bin nicht unbedingt der, der reist, um rasch irgendwo hinzukommen. Nur schon das Unterwegs-sein fasziniert mich total. Im Dazwischen erlebe ich immer wieder eine anregende Unruhe, die mich eintauchen lässt in eine Welt von flüchtigen Beobachtungen und zum Teil nur wagen Wahrnehmungen. Dabei geniesse ich, wenn auf der Zugfahrt Gelesenes mit der vorbeiziehenden Welt harmoniert oder auch mal kontrastiert, wenn Podcasts und Musik auf einer Schifffahrt an Weite und Tiefe gewinnen und mich auf eine wunderbare Art eins werden lassen mit dem Gehörten.
Ziele hatte ich mir sehr wohl gesteckt, wenn auch nur ein einziges per Datum und fix. Als Fussballfan und als Bewunderer grosser Stadien wollte ich mir unbedingt ein Spiel von Real Madrid im Bernabeu oder von Atletico Madrid im neuen Wanda Metropolitan anschauen. Nun, das altehrwürdige Bernabeu habe ich schliesslich besichtigt, im anderen erlebte ich Spiel und Atmosphäre. Kein Vergleich war jedoch beides mit dem, was ich in Bilbao erlebte.
Die Architektur der Stadt ist beeindruckend. Spannende moderne Gebäude verbinden sich in idealer Weise mit Baustilen aus früheren Jahrhunderten. Das weltberühmte Guggenheim Museum inszeniert sich in einzigartiger Lage, ist der absolute Blickfang.
Ein anderes imposantes Gebäude hatte ich gar nicht auf dem Zettel und stand plötzlich davor. Vor mir erhob sich ein monumentaler Bau, mit eigenartiger Fassade und Form. Er erinnerte mich zuerst an ein riesiges UFO. Der grosse unverbaute Vorplatz machte dann rasch klar, dass es sich - genau - um das Fussballstadion handeln musste.
Kurz und gut. Obschon ich nicht damit gerechnet hatte, fand am Abend meiner Ankunft ein Cupspiel zwischen Bilbao und dem FC Barcelona mit Messi und Co. statt. Ich ergatterte mir eines der letzten Tickets gleich hinter dem Tor und befand mich bald in einem wahren Tollhaus, mitten unter den ausgelassen feiernden Bilbao Fans. Es war ein herrlicher Fussballabend - mit einem Sieg des einheimischen Underdogs. Und mit dem Virus. Mit ihm hätte ich mich nämlich schon hier anstecken können.
Bei einem Flug von A nach B sieht man das Land höchstens aus der Vogelperspektive. Mit Zug und Bus bleibt die Möglichkeit, hier und dort einen Zwischenhalt zu machen. Nach Bilbao waren das die Städte Madrid und Córdoba.
Sevilla und ein Treffen mit Roland Studer, ausgewanderter Heimweh-Effianer, hatte ich mir für den Rückweg und vor der Reise durch Portugal vorgenommen. Tja, wenn ich gewusst hätte, dass aus all dem nichts mehr werden würde…
In einer Hafenstadt Nähe Cádiz bestieg ich die Fähre, die mich nach 30 stündiger Überfahrt nach Palmas auf Gran Canaria brachte. Auch wenn sich dieses neuartige Virus bereits bei italienischen Touristen in einem Hotel auf der Nachbarinsel bemerkbar gemacht hatte, konnte ich noch gut einen Monat auf den kanarischen Inseln herumreisen. Die Leute sassen in Quaratäne und die Gefahr schien gebannt. Da ich früh im Jahr dran war, ergoss sich noch nicht die Masse an Ausländern über die Touristenorte. So bereiste ich gemeinsam mit einer Freundin Gran Canaria, traf in einem Fischerörtchen auf die Effianerin Claudine und ihren Freund Fabian (rein zufällig natürlich ;-)) und besuchte dann wieder auf eigene Faust die anderen Inseln Palma und La Gomera.
Wie ich dann auf La Gomera weit draussen in einem Nationalpark von der Polizei gestoppt und zur Umkehr ins Hotel aufgefordert wurde, spürte auch ich, dass da wohl grösseres Unheil im Anmarsch war. Die Informationen, die zu uns Touristen gelangten, waren vorerst widersprüchlich. Doch als über Nacht alle Strände und Parks gesperrt wurden und schliesslich auch die Restaurants dicht machten, war es höchste Zeit, sich einen Platz auf einer Fähre Richtung Teneriffa zu ergattern. Was mich dann hier erwartete, habe ich eingangs geschildert. Lockdown.
Es war etwas geschehen, das ich mir nicht im Entferntesten hätte vorstellen können. Und doch war es so. Ich sass fest in einem Hotelzimmer. Wohin jetzt? Und wie? Noch ein Tag zuvor hatte ich einen Flug nach Sevilla gebucht, mit der Absicht, dann nach Portugal auszuweichen. Doch die Ankündigung der ausserordentlichen Lage in der Schweiz liess mich einhalten. Reisen machte so keinen Sinn mehr. Ich konnte umbuchen und flog kurz darauf über Madrid zurück in die Schweiz.
Und jetzt? Obwohl wir erst Mitte März hatten - der Rest des Jahres ist rasch erzählt. Scheint mir. Doch halt.
Ich hatte noch nicht ganz aufgegeben und dachte vorerst tatsächlich, Thailand oder Kuba könnten noch zu bereisen sein. Doch das Bad im Meer rückte immer mehr in weite Ferne. Bebadbar ;-)) blieben in diesem Sommer für mich nur die Aare und die Seen. Und das Draussensein beschränkte sich vorerst auf den Garten.
Langsam musste ich mich damit abfinden, dass die geplante Wanderschaft kein wirkliches Unterwegssein mehr sein konnte. Ich beschloss, sie zu beenden, sie aufzuschieben und mich bei Bedarf wieder im Colearning und im Effinger zu engagieren. Eine Lust auf das Angehen von weiteren Projekten oder die Wiederaufnahme meiner Coachingtätigkeit verspürte ich vorerst nicht.
Doch! Ein weiteres Projekt reifte heran. Ich verspürte schon lange das Verlangen, wieder mal etwas Handwerkliches zu machen. Ich besitze in Brienz in einem älteren Gebäude eine Haushälfte. Vor vielen Jahren hatte ich die Wohnung mit meinen Eltern und meinen Geschwistern umgebaut. Mir gefiel das alles aber nur noch bedingt. Ich brauchte mehr Licht, mehr Raum und eine bessere Isolation. Nach kurzer Planungszeit setzte ich gemeinsam mit Handwerkern, Freunden und meinen Söhnen die Absicht in die Tat um. Das Ergebnis gefällt mir nun so gut, dass ich jetzt, wenn ich diese Zeilen schreibe, am Tisch sitze, den ich mit der nicht mehr benötigten Schlafzimmertür gezimmert habe. Er steht in dem Raum, der vorher das Schlafzimmer war und jetzt ein multifunktionaler bis unters Dach offener Wohnraum ist. Das gefällt mir!
Eindrücklich zu erleben, wie einem Arbeitsgänge mit Werkzeugen und Maschinen nach anfänglicher Unsicherheit mit der Zeit zusehends besser von der Hand gehen und der Spass am Ausprobieren wächst. Woww! Gelernt ist gelernt! Und, wenn mal etwas schief geht. Kein Problem, zweite Chance! Meistens…
Im Moment lebe ich im Haus meiner Mutter. Zusammen. Wieder. Nach fast 50 Jahren. Nach der Räumung meiner Wohnung brauchte ich eine Art einfache Homebase für die Zwischenhalte in der Schweiz. Ich richtete mich in zwei Zimmern ein, gab Dinge weg, lagerte anderes im Keller ein. Nach meiner - ich dachte immer noch vorläufigen - Rückkehr richteten wir uns als Risikogruppen-Wohngemeinschaft ein. Die Krise als Chance. Sicher auch für uns. Für Gespräche mit meiner Mutter hatte ich in den letzten Jahren nie so viel Zeit gehabt wie jetzt in diesen Wochen und Monaten. Eine Fügung, die uns viel Spass macht aber auch Gewöhnung und Nachsicht abverlangte. Damit sich die Chance nicht gleich wieder zur Krise und einer Art Lagerkoller verwandelte, nahm ich mir viel Zeit für Wanderungen und Biketouren. Das Wetter lud ein dazu. Und bald verbrachte ich ja eh viel Zeit mit meinem Umbau.
Und was tut sich im Effinger?
Corona beschleunigte Entwicklungen, die unter normalen Umständen deutlich mehr Zeit und Überzeugungsarbeit benötigt hätten. Nach Jahren des Aufbaus und der Konsolidierung haben sich Abläufe und Strukturen im Coworking Space eingeschliffen. Der Betrieb funktioniert, die Coworkingplätze sind gut belegt, die Raumvermietung floriert. Alles gut? Wenn der Effinger einfach ein gut geöltes Business sein sollte, wäre dem sicher so. Doch der Effinger will mehr sein als ein Arbeitsort für Selbstständige. Die soziokratisch organisierte Community verantwortet in gemeinsam geteilter Verantwortung die Führung des Spaces. Das Einnehmen und Erfüllen von Rollen, die wiederum zusammengefasst sind in Kreisen wie Administration, Space, Finanzen, Kommunikation etc., hält unser gemeinsames Werk am Laufen. Die Community baut auf Grundsätze, die das Gemeinwohl und die gegenseitige Unterstützung als wichtige Basis nennen. Zudem steht der Effinger für Innovation, Experimente, für das Angehen bisher unbekannter Wege. In unserem Circle Werte/Vision machten wir uns schon länger Gedanken, wie wir, auch im Hinblick auf die Verlängerung des Mietvertrages, das Commitment thematisieren und die Organisationsstruktur hinterfragen könnten, ohne das laufende Betriebsmodell grundsätzlich in Frage zu stellen.
Die zu meisternde Situation mit Corona führte uns nun in einen Prozess hinein, der auf dem Coworking als Kernangebot aufbaut und zusätzlich KreAktionen aus der Mitte der Community ermöglichen soll. Das Gesicht des Effingers hat sich bereits verändert und weitere Veränderungen und Innovationen werden folgen. In Sachen Commitment und Verantwortungsübernahme werden wir sicher noch einmal gut hinschauen müssen. Aus einem Papier von www.integrale-politik.ch stammt der treffende Satz: „Die kollektive Klarheit ist die unsichtbare Führung.“ An der Klarheit, der Transparenz werden wir in Zukunft arbeiten müssen, wenn es uns weiterhin gelingen soll, unsichtbar, flach, gemeinsam und im Vertrauen zueinander zu führen.
Zum Schluss noch ein paar Bemerkungen zum Colearning-Projekt, das wir im Effinger im Sommer 2019 relativ spontan starteten. Diese Unternehmung erfuhr durch den Lockdown und die beschränkten Möglichkeiten in den Wochen und Monaten danach die Korrektur, die meiner Meinung nach für den Fortgang entscheidend war. Vor Corona fanden wir uns zusehends in einem Setting, das sehr nach Schule roch und wenig mit selbstverantwortetem Lernen zu tun hatte.
Die Corona-Massnahmen machten dann für alle einsichtig, dass Colearner im Effinger nur einen Lernort haben, wenn sie sich verhalten wie Coworker und bereit sind, nach geltenden Coworking-Regeln ihr Lernen zu gestalten. Das funktioniert bis jetzt erfreulich gut und lässt hoffen, dass die Idee des Colearnings auch vermehrt bei erwachsenen Lerner:innen und in anderen Coworking Spaces Raum finden wird.
Das neue Jahr hat begonnen, Corona ist uns geblieben. Wir alle werden weiterhin gefordert sein, gut auf uns und andere aufzupassen und uns doch nicht ins Schneckenhaus zurück zu ziehen. Es gilt, sich bewusst zu werden, welche Gewohnheiten diese Pandemie gerade hinterfragt und verunmöglicht und welche bisher nicht oder wenig begangenen Wege entdeckt werden könnten. Es bleibt offen, ob es die Situation zulassen wird, in einigen Monaten doch wieder die eine oder andere fernere Destination ansteuern zu können, um die unterbrochene Wanderschaft doch noch zu vollenden. Alles bleibt anders!