Travelstory - Klappe die Dritte

Dem Zerfall verfallen - oder dem Aufbruch geschuldet?

Wir haben vor einigen Tagen die albanische Riviera erreicht. Zu zweit, unterwegs mit einem VW-Camper. Der Weg hat uns in gut zwei Wochen durch eine Reihe von Balkanstaaten ans Meer geführt. 

Was haben wir gesehen? Überraschendes, Ernüchterndes und auch Beeindruckendes. Was habe ich erwartet? Ich für mich hatte Vergleiche mit Städten und Landschaften im ehemaligen Ostdeutschland, mit Ungarn. Und frühe Bilder aus Russland. Ich war vor vielen Jahren mal unterwegs mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Nachodka am japanischen Meer. 

Bilder im Kopf, die Bestätigung fanden? 

Mediterranes Flair und Plattenbau


Wenn mich die Lieblichkeit der slowenischen Hauptstadt Ljubljana mit ihrem historischen Kern noch berührte und erstaunte (die Aussenbezirke lassen wir mal weg), fand ich Zagreb schon etwas anstrengender. Zagreb bietet reichlich mediterranes Flair, mit vielen Strassencafés und Parkanlagen. Die Nähe zum Meer ist spürbar. Die Stadt verfügt über eine Reihe schöner älterer Bauten und einen historischen Kern, der bei unserem Besuch jedoch vor allem eine Baustelle war. Und Rotweiss, schachbrettartig angeordnet, ist überall zu sehen. 

Der Verkehr ist dicht. Auch mit den Fussgängerinseln der Innenstadt ist Zagreb eine Autostadt. Viele parkierte Autos verstopfen die Strassen und die Gehsteige und verhindern ein entspanntes Flanieren in den Geschäftsstrassen. 

Die Hochhaussiedlungen in den Außenbezirken sind imposant. Vor allem das Mamutico, ein Riesenwohnkomplex, der in Novo Zagreb steht und Wohnraum für 1500 Menschen bietet, hat eine beeindruckende Dimension. 

Über Land

Die Fahrt über Land Richtung kroatisch-serbische Grenze ist schnell erzählt. Es dominieren die weiten Enenen, die schier endlosen Agrargebiete. Die Landwirtschaft ist in Kroatien und Serbien ein wichtiger Wirtschaftszweig. Angebaut werden vor allem Weizen, Mais, Sonnenblumen, Sojabohnen und Zuckerrüben. Bei der Tierhaltung überwiegt die Schweinezucht. Schaut man auf die Speisekarten der Restaurants, wird einem bewusst, dass der Fleischverzehr hier wohl noch eine andere Dimension hat, als in der Schweiz. Die Agrarbetriebe kämpfen jedoch seit Jahren mit der wenig fortschrittlichen Technologisierung. 

Viele der ländlichen Siedlungen sind ähnlich angeordnet. Da verläuft die Strasse mit Strassengraben, oft links und rechts, längs durchs Dorf. Die Gräben dienen der Entwässerung der Strasse und schützen sie so etwas länger vor Schäden. Die meisten von uns befahrenen Strassen sind asphaltiert und in relativ gutem Zustand. Mit Schlaglöchern ist jedoch immer zu rechnen. Kleine Übergänge sichern die Erreichbarkeit der einzelnen Parzellen. Aneinander gereiht gehen alle Grundstücke mit Haus, Schopf und Hof, abgeschirmt durch Mauern, auf das Feld hinaus. Gebaut wird mit Stein und Lehm.

Belgrad - rohe Schale, weicher Kern? 


Nachdem der Campingplatz in Zagreb noch mit vielen Annehmlichkeiten gefallen konnte, treffen wir nun bei Belgrad auf ein Gelände und eine Anlage, die schon etwas brachialer ausgestattet ist. Der Platz liegt zwar gleich am Ufer der Donau, doch ist das Ufergelände mehr Bau- und Lagerplatz und darum nicht zugänglich. Am ersten Abend fragen wir uns, woher denn die Folkloremusik kommt, die trotzdem vom Fluss her zu hören ist. Am nächsten Tag wissen wir’s: Neben Schleppkähnen sind immer wieder Passagierschiffe unterwegs, die zum Teil von Wien bis ans Schwarze Meer fahren. Und für Unterhaltung muss natürlich gesorgt werden. 

Da die ÖV-Verbindungen rein in die Stadt nur mit längerem Fussmarsch zu erreichen sind, entscheiden wir uns, mit dem eigenen Bus rein zu fahren. 

Die gewählte Einfallstrasse führt uns über einige Windungen und den Vorort Zemun rein in die Innenstadt. In den Aussenbezirken passieren wir eine Vielzahl von kleineren, grösseren und zum Teil monumentalen Wohn- und Geschäftssilos. Über eine der Brücken, die die Save quert, erreichen wir den älteren Teil der Stadt. Schon der Anblick der verschachtelten Häuserfassaden bei der Fahrt über die Brücke wirken fast ein bisschen bedrohlich. Wie Zagreb punktet Belgrad mit einem historischen Kern, der aus einer Burganlage und einer Altstadt mit vielen verwinkelten, engen und von Bäumen gesäumten Strassen besteht. Hier finden sich coole Bars und Shops.  Historische Gebäude, wie das Parlament, schliessen an. Hier sind unterschiedlichste Baustile aus vorderen Jahrhunderten vereint. Das Leben ist geschäftig. Die bekannteste Ladenstrasse bietet einige Einkaufsmöglichkeiten. Doch das Schillernde anderer Großstädte fehlt. Mindestens auf unserem Streifzug hatten wir den Eindruck einer etwas biederen, eher verschlossenen Stadt. Das mag auch daran gelegen sein, dass die Stadt unter Schock stand wegen der zwei Amoktaten, die fast 20 Menschen das Leben kosteten und nur wenige Tage vor unserem Besuch geschahen. An einer Belgrader Schule schoss ein 13 Jähriger auf Mitschüler:innen, Lehrpersonen und Wachpersonal. Die meisten der tödlich verletzten Opfer waren Kinder und Jugendliche. 

Der aus Strassen und viel Beton bestehende Vorstadtgürtel wirkt auch bei wiederholtem Hinschauen wenig inspirierend und architektonisch recht einfältig und vor allem funktional. Viele dieser modernistischen Plattenbauten und Hochhäuser wurden in den 1960er und 1970er Jahren erbaut, um die wachsende Bevölkerung unterzubringen. Brutalismus nennt man diese Art von Baustil. Sie wird uns gerade in Skopje auch noch einmal begegnen. Auch wenn ich klare Strukturen absolut liebe, derart klotzig, kantig und roh können Gebäude dann doch sehr abschreckend wirken. Speziell in Erinnerung bleibt mir das Geros-Gebäude, das wie ein hoch aufgeschossenes Mahnmal die Stadtsilhouette prägt. 

Unzählige Strassen, zum Teil mehrspurig und einem Boulevard ähnlich, führen von allen Seiten mitten in die Stadt hinein. Die sind tagein tagaus gut frequentiert. Staus noch und noch. Kein Wunder, ist die Innenstadt sowas von zugeparkt. Und wohlgemerkt: Abgestellt wird auf dem eh schon engen Gehsteig. Ob mit Auto, Bike oder zu Fuss. Unterwegs sein in diesen Städten ist der wahre Hindernislauf. Wir haben’s erfahren am zweiten Belgradtag. Wir entschieden uns ab Zemun fürs eigene Bike, genossen das Einrollen der Donau entlang. Die engen Verhältnisse auf der Strasse, Radstreifen gibt es praktisch keine, führten uns dann zum Befahren der zum Teil auch wenig Platz bietenden Gehsteige. Freestyle war gefragt - und wurde von den Fussgängern grosszügig toleriert.

Wir erinnerten uns fast sehnsüchtig an die verkehrsberuhigten Innenstädte, wie wir sie kennen. Wie schön, schaffen wir es doch in der Schweiz zunehmend, den motorisierten Privatverkehr aus den Innenstädten zu verbannen. 

Lustig noch die Episode mit den Strassenbahnen. Schnell fiel uns auf, dass da recht alte und quietschende Vehikel unterwegs waren. Und wir dachten: Die sehen doch aus, wie wir sie kennen aus früheren Jahren bei uns. Und tatsächlich war dann auf einem auch noch das Emblem der Basler Stadtbetriebe gut sichtbar. Nun, Kroaten und Serben brauchen unsere Ratschläge bezüglich verkehrsberuhigte Städte wohl nicht. Zu wichtig scheint die freie Fahrt für den Individualverkehr. Wenn bei uns nur Bürgerliche und Geschäftsinhaber das Sagen hätten, sähe es wohl auch nicht viel anders aus. 


Kleiner Exkurs: Wie viel Fortschritt bezüglich Lebensqualität verdanken wir doch in der Schweiz linksgrünem Denken und Handeln? Und wie viel Rückständigkeit, Verschandelung und Eigennutz doch bürgerlichen Verhaltensweisen? 

Ob und wie sehr auch in diesen beiden Staaten das regierende, eher konservative Gedankengut wirkliche, den Menschen und der Umwelt zu Gute kommende Entwicklungen verhindert, kann ich nur vermuten. Doch gerade im Fall Serbien scheint der wieder stärker aufkommende Nationalismus politisch andere Schwerpunkte zu setzen. 

Beide Städte wachsen. Zagreb nähert sich der Millionengrenze, Belgrad den zwei Millionen Einwohnern. Ein Fünftel oder fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Landes lebt mittlerweile in der Hauptstadt. Was die moderne Architektur betrifft, habe ich in beiden Städten wenig Spannendes gesehen. 

Vielmehr fällt auf, dass durch die Verwitterung des rohen Betons und das sichtbare Rosten der Stahlkonstruktionen ganze Strassenzüge einen ungepflegten und baufälligen Eindruck machen. Dies wird verstärkt durch viele Liegenschaften, die offenbar ungenutzt und damit dem Zerfall ausgesetzt oder gar nie fertig gebaut worden sind. 

Es ist ein fast beelendes Gefühl, das mich befällt. Und doch übt die ganze Szenerie einen eigenartigen Reiz auf mich aus. Ist es der scheinbare Zerfall, oder der vielleicht darunter und dahinter  versteckte, nicht offensichtlich sichtbare Aufbruch? Unser Empfinden und Harmoniebedürfnis will Unvollkommenes, nicht Perfektes in Ordnung bringen. Sind die  Materialien, die da rumliegen, einfach Dinge, die halt so ihren (momentanen) Platz gefunden haben, oder handelt es sich schlicht Müll, der entsorgt werden sollte? 

Wir gelangten zum Beispiel in den Belgrader Design Distrikt. Hinterhofatmosphäre. Unsere Einschätzung? Anregend  „casual“ oder einfach verwahrlost? Beides, denke ich. Dass wir hier eine Designerin finden, die tollen Schmuck der anderen Art herstellt, zeigt, was in Ruinen wachsen kann.

Denke ich. 

Und ich merke einmal mehr, was mich auf dieser Welt fasziniert. Es sind nicht in erster Linie die Orte der augenfälligen Harmonie, sondern die Begegnungen mit dem Widerspruch, den Gegensätzen, Kontrasten. Ich kann jeweils stundenlang durch solche „Unorte“ ziehen. In Bern haben für mich darum der Freudenbergplatz und der Europaplatz immer ihre Faszination gehabt. Orte wie sie bewegen auch in mir das Unfertige, Rohe, noch nicht Zurechtgeschliffene, in wohlklingende Komposition gebrachte. Und lassen mich atmen, neugierig sein und erkunden, im Innen und Aussen.