Travelstory - Klappe die Fünfte

Prolog

Interessiert an Geschichte? Was für eine Frage. Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Vergangenheit erforscht haben. Heisst es etwa. Mag sein. Ich für meinen Teil konzentriere mich lieber auf das, was ist und noch werden kann. Gleichwohl beschäftigte ich mich auf unserer Balkantour bald einmal sehr damit, Erlebtes und Gelesenes in für mich nachvollziehbare Zusammenhänge zu bringen. Ein spannendes, und zuweilen auch anstrengendes Lernerlebnis. Mit interessanten Erkenntnisen, wie ich finde. Zur Geschichte des Balkans und zum Lernen. 

Ich schreibe nicht über das Lernen, sondern vom Lernen. So untersuche ich als erwachsener Lerner auf meinem animierenden Weg des lebenslangen, lebensbegleitenden Lernens mein persönliches Lernen und erlaube mir einige Rückschlüsse und Überlegungen über das Geschichtliche hinaus. Und da bin ich dann wieder: Gelerntes, in diesem Fall Geschichte, muss mit mir zu tun haben. Nur so kann ich verknüpfen und dazulernen. Und spannende Welten entdecken. Im Sein und im Gewesenen. 

Eskalation im Kosovo

“Ein Funken reichte für die Eskalation im Kosovo“ titelte der Bund vor ein paar Tagen. Im Norden des Kleinstaates,  inmitten des Balkans, hat sich mal wieder entzündet, was in vielen Regionen des ehemaligen Jugoslawiens latent in der Luft liegt. Im Vorlauf zu unserem Roadtrip hatten wir uns bereits ausführlicher mit dem Kosovo beschäftigt. Einerseits, weil gute Freunde das Kosovo vor Kurzem bereist hatten und uns viel erzählen konnten, andererseits auch, weil einer meiner Söhne vor einigen Jahren für ein Jahr Teil der Swisscoy war. Gerne wollte ich den Ort mal besuchen und mir auf unserer Reise durch den Balkan auch die Region Prizren und Pristhina anschauen. Vor ein paar Tagen haben wir uns entschieden, schweren Herzens, darauf zu verzichten. Die Auseinandersetzungen im Norden und die militärische Drohgebärde der serbischen Regierung mit ihrem Truppenzusammenzug an der Grenze zum Nachbarstaat, haben uns dazu bewogen, definitiv nicht in das Land reinzufahren. Besser so, finden wir, muss nicht sein, zu diesem Zeitpunkt. 

Der Balkan - ein Pulverfass

Zum wiederholten Mal hatte ich bisher versucht, schreibend etwas Ordnung in Gedachtes, Erlebtes und Gelesenes im Zusammenhang mit den geschichtlichen Entwicklungen Ex-Jugoslawiens zu bringen. Wir hatten verschiedene Eindrücke auf der bisherigen Reise, wurden immer wieder mit der noch jungen Vergangenheit konfrontiert. 

Da könnte einem schwindlig werden, bei diesem ganzen Hin und Her über all die Jahrhunderte. Natürlich interessierten mich vor allem die Entwicklungen nach dem Ende der jugoslawischen Republik. Das heisst: Nach dem Ende des dritten Versuchs, aus der Ansammlung von Staaten einen Bund zu schmieden. Denn, wie ich jetzt weiss, gab es bereits einen Balkanbund anfangs 20. Jhdt und sogar ein Königreich nach dem ersten Weltkrieg. Alles nicht so einfach, auch, weil ich mich eigentlich mehr für das Hier und Jetzt und die Zukunft als für Gestriges interessiere.  

Doch mit den eingangs erwähnten aktuellen Ereignissen werde ich noch einmal motiviert, meine Überlegungen zu ergänzen. Also: Was soll denn an den geschichtlichen Entwicklungen im Balkan so spannend sein? So aufwühlend, dass auch der Tennisspieler Novak Djokovic, Serbe, mit einer in die Kameralinse getaggten Botschaft anlässlich des Tennisturniers in Paris, derart Öl ins Feuer zu giessen vermag? Doch der Balkan war seit jeher ein Pulverfass. 

Moschee in Skopje
Moschee in Skopje

Lernen als Ringen und Durchdringen

Wie war das doch mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo, so quasi als Auslöser für den 1. Weltkrieg? Und die unsäglichen Gräueltaten aus den Jugoslawienkriegen? Namen wie Milosevic tauchen auf. Abgeurteilt in den Haag als Kriegsverbrecher, gestorben in der Zelle kurz darauf. 

Aber Details? Nur noch wenige. 

Ein „Relearn-Prozess“ beginnt zu laufen. Mein aufkommendes Interesse aktiviert nicht nur latent vorhandenes Wissen, sondern beginnt Fragen zu generieren. „Wie war das jetzt genau?“ oder „warum haben sich die Dinge so und nicht so entwickelt?“ Ich merke, es interessiert mich. Begeisterung fürs Thema ist anders. Aber immerhin. Auch Lernlust, Appetit auf Verstehen, kommt ja bekanntlich mit dem Essen. Ich steige ein, sauge auf, lese Texte mit dem nach- und hinterfragenden  Fokus, bin Teil von Gesprächen, mache mir meine Überlegungen, entdecke Zusammenhänge. 

Doch: Je mehr ich lese, desto weniger verstehe ich. Kommt mir vor. Die geschichtlichen Entwicklungen auf dem Balkan sind komplex. Das beginnt schon früh, mit den Römern, Griechen und den Osmanen zum Beispiel. Wenn sich ihre Einflüsse auch zeitlich noch einigermassen beschreiben lassen, so wird das mit dem Eindringen der Slawen, dem Wirken von Alexander dem Grossen, den Venezianern, Byzantinern, den verschiedenen Königreichen, die sich bildeten und all den Besatzungsmächten im ersten und zweiten Weltkrieg schon schwieriger. 

Ich nutze die verschiedensten Quellen, informiere mich aus Büchern, Internet und natürlich mit Hilfe von Chat gpt. Die neue App „Nova“, extra fürs Smartphone entwickelt, habe ich anfangs Reise, kurz nach Erscheinen, abonniert. Ich habe mir zudem schon vor der Reise einige Reportagen angesehen, habe mit Menschen gesprochen, die aus diesem Gebiet stammen oder es vor kurzem bereist haben. 

Es zeigt sich mir mal wieder deutlich, was Lernen ist: Ein Ringen und Durchdringen, ein Ordnen und Zusammenbringen von Informationen, ein Suchen und Finden von Sinn, Austausch, Gespräche, und hoffentlich, ein Verstehen des Ganzen.

Es geht um ein besseres Verständnis eines bestimmten Sachverhaltes, darum, Grundsätzliches und Wesentliches herauszufiltern und in für mich - und vielleicht auch für andere - verständlicher Weise neu zusammen zu bringen. 

Umständlicher oder natürlicher Lerner? 

Ich weiss ja nicht. Vielleicht bin ich halt ein sehr umständlicher Lerner. Doch das, was ich da beschreibe, ist für mich natürliches Lernen. Nichts Beigebrachtes, Vermitteltes, in S, L oder XL Portionen Verabreichtes. Wenn ich sehe, dass in sehr vielen Schulen Wissen nach wie vor in sehr fabrikatöser und konfektionierter Weise von Belehrenden zur Einnahme oder, wenn es hoch kommt, zum Selberauslöffeln präpariert wird, kommt mir das Augenwasser. Was soll’s! Ich habe die Freiheit, als autonomer, manchmal vielleicht fast ein bisschen anarchischer Lerner unterwegs zu sein. Und das geniesse ich. Sogar, wenn es um Geschichte geht.

Belgrad, Brücke in die Altstadt
Belgrad, Brücke in die Altstadt

Jugoslawien löst sich auf

Slowenien, Kroatien, Serbien, Nordmazedonien, Albanien und jetzt auch Montenegro liegen hinter uns. Noch vor 30 Jahren haben diese Länder, ohne Albanien, dafür mit Bosnien und Herzegowina zusammen, Jugoslawien gebildet. Dieser Vielvölkerstaat hat also ab dem Ende des 1. Weltkrieges einen Grossteil des Balkans ausgemacht. Nach 1945 wieder. Der ehemalige Partisanenführer Tito wurde zum autoritären Herrscher und führte den  sozialistischen Staat 40 Jahre mit eiserner Hand. Unter ihm wurden alle Unabhängigkeitsgelüste im Keime erstickt. Nach seinem Tod 1980 zeigten sich bald erste Zerfallserscheinungen. Slowenien war dann die erste Teilrepublik, die ihre Unabhängigkeit verkündete. Es folgte Kroatien. Wenn die Abspaltung von Slowenien nur geringe militärische Scharmützel zur Folge hatte, führten die Abtrennung von Kroatien zu einem ersten blutigen Krieg. Das war der Anfang von militärischen Auseinandersetzungen, die die ganzen 90er-Jahre über andauern sollten und viel Leid gerade auch über die Zivilbevölkerung brachten. 

Auch wenn diese kriegerischen Handlungen, die schliesslich zum Zusammenbruch Jugoslawiens führten, eine Weile her sind: Die Wunden sind noch frisch. Gegenseitige Ressentiments prägen eine Kultur, in der Polarisierung und Ausgrenzung wieder lauter und offener zelebriert werden. 

Gebäuderuine mit Einschusslöchern in der Nähe von Dubrovnik
Gebäuderuine mit Einschusslöchern in der Nähe von Dubrovnik

Freiheit in Zwietracht

In Serbien zum Beispiel sind die nationalistischen Kräfte stark im Aufwind. Als Zerreissprobe kündigt sich der Umgang mit der Unabhängigkeit des Kosovo an, wie bereits eingangs erwähnt. Serbien will die Teilrepublik nämlich nicht ziehen lassen. Zu wichtig sei dieser Landstrich für die Identität und die Geschichte Serbiens. In ein paar einzelnen Gemeinden des Kosovo leben um die 150000 Menschen serbischer Abstammung. Sie liebäugeln mit einem Anschluss an Serbien, auch weil sie sich im zumeist albanischstämmigen Kosovo,  als Minderheit, in ihren Rechten beschnitten fühlen. Wohl nicht ganz zu unrecht. Der Norden war vor kurzem In den Schlagzeilen, weil kosovarische Serben sich weigerten, ihre serbischen Autokennzeichen gegen kosovarische zu tauschen. Und aktuell zeigen sich Zerwürfnisse, weil in den von Serben dominierten Gebieten nach Wahlboykotten albanischstämmige Bürgermeister installiert werden sollen. Der Umgang ist unzimperlich, wenig sensibel, immer wieder auf Revanche bedacht.

Auch die Beziehungen zwischen Kroatien und Serbien sind immer wieder gestört, Grund sind gegenseitige Provokationen. So besucht der serbische Ministerpräsident, ohne Wissen der kroatischen Regierung, eine Gedenkstätte in einem kroatischen Bezirk, der vor allem von serbischstämmigen Menschen bewohnt wird. Klar kommt das in anderen Teilen Kroatiens gar nicht gut an. 

Doch auch in Serbien regt sich Widerstand. Zögerlich, aber immerhin. Das haben wir an einem Abend in Belgrad selber miterlebt. Es gehen Menschen auf die Strasse und demonstrieren gegen die Regierung. Diese und ihre laschen Waffengesetzte kommen unter Druck, nachdem vor ein paar Wochen ein Jugendlicher an einer Belgrader Schule mit einer Schiesserei ein Blutbad angerichtet und sieben Mitschüler:innen und einen Wachmann kaltblütig getötet hat. Die Leute wenden sich gegen Rechtspopulismus, Gewaltverherrlichung und den uneingeschränkten Waffenbesitz. Dieser ist eine späte Folge des Krieges. Viele Serben haben sich damals mit Waffen ausgerüstet und die zur Selbstverteidigung bis heute behalten. 

Hoffnung auf friedliches Nebeneinander
Hoffnung auf friedliches Nebeneinander

Konfliktpotenzial bleibt hoch

Inzwischen hat eine grosse Anzahl von Staaten die kosovarische Unabhängigkeit anerkannt, sehr zum Missfallen von Serbien. Dieses fühlt sich sowieso vom Westen schlecht behandelt. Ein Grossteil der Schuld an den blutigen Kriegen auf dem Balkan in den Neunzigerjahren wird den Serben und ihren Verbündeten in den verschiedenen Teilrepubliken angelastet. Serbische Milizen hatten vor allem in Bosnien und im Kosovo grausame Massaker an der Zivilbevölkerung verübt und waren erst zum Rückzug bereit, als die NATO begann, Ende der 90er-Jahre grosse serbische Städte wie Novi Sad oder Belgrad zu bombardieren. 

Diese Demütigung und diese in ihren Augen ungerechtfertigte Aggression haben viele Serben dem Westen bis heute nicht verziehen. Die Russlandnähe, gerade auch im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg, kommt darum auch nicht von ungefähr. Es ist zudem einige Jahre her, dass Serbien ein Beitrittsgesuch bei der EU deponiert hat, jedoch aus diversen Gründen (es geht um die Unterstützung bei der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen, um die Lösung der Kosovofrage, um Korruption) bis heute keine Aufnahme fand. Und zwischenzeitlich soll es sogar so sein, dass viele Serb:innen gar nicht mehr zur EU wollen. 

Dubrovnik: Wiederaufbau dank Unterstützung von Staaten und Organisationen
Dubrovnik: Wiederaufbau dank Unterstützung von Staaten und Organisationen


Das Konfliktpotenzial im Balkan bleibt hoch. Durch den enormen Mix an Ethnien ergeben sich praktisch in jedem Land Minderheiten, die sich nicht genügend wertgeschätzt und gehört fühlen. Das stellt diese noch jungen Demokratien vor grosse Herausforderungen. Weil zudem der islamische, jüdische, katholische und serbisch-orthodoxe Glauben in vielen Regionen eng miteinander verwoben ist und die unterschiedlichen Ethnien den Mix komplett machen, bleibt das friedliche Miteinander eine stete Herausforderung. Wie meinte doch ein Nordmazedonier auf der Strasse im alten Bazar von Skopje: „We are a mix of people, a mix of culture, a mix of all.“ 

Streitereien, Sticheleien noch und noch

Auch Griechen und Nordmazedonier sind im Zwist. Lange ging’s um die Namensgebungen der nördlichsten Region Griechenlands und dem selbstständigen Land Mazedonien. Diese Frage konnte nach langem Ringen geklärt werden. Doch nicht genug der Auseinandersetzungen. Weil beide Länder Alexander den Grossen, den grossen mazedonischen Heerführer, für sich reklamieren, gibt es gleich den nächsten Streit. Weil der  Flughafen von Thessaloniki (Griechenland) „Airport Makedonien“ genannt wird, wollten die Nordmazedonier den ihren „Alexander der Grosse“ nennen. Er heisst jetzt, nach langen Verhandlungen, wieder Skopje Airport. 

So ist auch die Frage nach der Herkunft von Mutter Teresa ein ständiges Thema. Sie soll einmal gesagt haben, sie sei albanischen Blutes, katholischen Glaubens und Bürgerin Indiens. Sie gehöre der Welt, ihr Herz aber allein Jesus.  Anspruch auf Teresa erhebt zum Beispiel Nordmazedonien, das sie als «Tochter Skopjes» verehrt. Ein Gedenkhaus in Skopje ist Wallfahrtsort für Touristen und Gläubige. Das Kosovo hat eine zentrale Strasse in Pristhina nach ihr benannt und will sie zu den Ihren zählen, weil die Mutter Kosovarin war. Als die Heiliggesproche neu die Identitätskarte zieren sollte, regte sich jedoch Widerstand bei den Muslimen, die 90 Prozent der kosovarischen Bevölkerung ausmachen. Die Idee wurde verworfen. Kommt noch Albanien. Sie sehen Mutter Teresa ihnen zugehörig, weil ihr Vater Albaner gewesen sein soll. Der Flughafen Tiranas trägt ihren Namen und die Albaner sollen sogar versucht haben, ihre Gebeine zu ihrem 100. Geburtstag von Kalkutta weg nach Tirana zu kriegen. Hat jedoch nicht geklappt. 

Abhängigkeiten

Ganz aktuelle zeitgeschichtliche Bezüge eröffnen sich uns nun noch einmal vor ein paar Tagen. Zuerst besuchten wir Montenegro und staunten ob der vielen russischen Autokennzeichen, die wir sahen. Montenegro eine Russenhochburg? Schwer zu sagen. Fakt ist, dass sich die Regierung dieses Landes eher schwer tut mit Sanktionen gegen Russland und Parteien an der Macht sind, die prorussisch denken. Da es auf der Gegenseite klare Kräfte gibt, die den Westen unterstützen und nach wie vor EU-Mitglied werden wollen, geht ein ziemlicher Riss durchs Land. Putin gelingt es also auch hier, diese noch junge Demokratie zu spalten. 

Auch wenn Vieles nicht mehr sichtbar ist, Schusslöcher vielerorts mit Mörtel zugeklebt sind, ehemals verfeindete Bevölkerungsgruppen wieder ein Miteinander versuchen: Die Wunden heilen langsam und Schecklichkeiten werden hoffentlich nie ganz in Vergessenheit geraten.