Auf unserer Reise durch den Balkan war die in vielen Ländern herrschende Korruption ein wiederkehrendes Thema. Nicht, dass wir persönlich in dieser Weise angegangen worden wären. Korruption geschieht eher im Stillen, Versteckten. Aber in Gesprächen machten uns Menschen immer wieder auf diese Misere aufmerksam. Auch bekamen wir viel dazu zu lesen. Dabei ging es nicht nur um das korrupte Verhalten von Amtsträgern, Politikern und Funktionären, sondern auch um die Laschheit der Justiz und um das Anwachsen der organisierten Kriminalität.
Etwas neidisch zeigten sich Menschen oft in Bezug auf die Schweiz. Weil Korruption bei uns kein Thema sei, wurde gesagt. Hmm, ist dem wirklich so? Wie läuft das mit der ganzen Lobbyarbeit, mit bürgerlichen Politikern, die sich von grossen Konzernen Honorare für Gegenleistungen bezahlen lassen? Was ist mit all den finanziell einträglichen Seilschaften quer durch alle Institutionen, mit all den Verwaltungsratsmandaten von Politikern, dem Söihäfeli-Söitecheli-Prinzip in den Gemeinden, wo Mann einander im grossen Stil Aufträge zuschanzt? Halt lediglich „ein bisschen“ Vorteilsnahme? Mann darf das nicht so eng sehen.
Oder das leidige Thema der Polizeigewalt, wo Übergriffe, oft gar mit Todesfolge, wenn überhaupt, dann nur zögerlich und schon fast zuvorkommend von Staatsanwaltschaft und Gerichten behandelt werden? „Systematische Disfunktionalität“ ist der Begriff, der dafür bei uns verwendet wird. Klingt etwas besser als Korruption und Willfährigkeit. Doch: Vor dem Gesetz sind ja bekanntlich alle gleich. Die einen halt ein bisschen mehr als die anderen. Hehre Vorstellung und krasse Fiktion. Leider. Gerade auch in der Schweiz.
Nun, die hohe Meinung etwas relativieren war jeweils das Mindeste, was ich tun konnte. Ich musste ja nicht gleich jegliche Hoffnung zerstören, indem ich meine Einschätzung teilte, dass auch die Schweiz, wegen der sich häufenden unlauteren Machenschaften, auf dem besten Weg zur Bananenrepublik sei. Wobei Bananenrepublik? Geht das noch? Stimmt: Nennen wir es doch einfach eine eidgenössische Willfährigkeitsrepublik. Denn: Auch eine „Demokratie“ kann Mann sich kaufen.
Diese geschilderten Einschätzungen animierten mich zu einer kleinen Posse, zu einem „Sittenbild“ von schweizerischem Handeln, oder oft eben auch ganz bewusst, Nichthandeln. Viele der Formulierungen stammen aus Medientexten. Es sind zumeist Stimmen und Verlautbarungen von Politiker:innen. Aussitzen - und dann „Schönreden und Rausstehlen“.
Soeben habe ich zudem die Lektüre des Buches „Utopien für Realisten“ von Rutger Bregman abgeschlossen.
Er präsentiert ein Plädoyer für eine 15-Stunden-Woche, ein universelles, bedingungsloses Grundeinkommen und offene Grenzen. Utopien! Visionen? Hirngespinste!? Spannend finde ich nicht nur die beschriebenen Strategien zur Erreichung der genannten Ziele, sondern auch die grundsätzlichen Überlegungen, was das Angehen von Neuerungen, Visionen und Utopien betrifft. Ich komme darauf zurück und sage schon mal: Schönreden und Rausstehlen, oder einfach Aussitzen, kann nicht die Lösung sein.
Doch zuerst..
Schönreden und Rausstehlen
Sie werden nichts falsch gemacht haben. Sie würden sagen, dass es zwar ein paar Baustellen gebe, dass die Übergänge jedoch flexibel ausgestaltet seien und stets Anschlüsse für weitere Abschlüsse vorhanden seien. Sie würden darauf hinweisen, mit welcher Inbrunst sie das Bestehende immer weiter ausgebaut und verbessert hätten. Sie würden mit Zahlen, Umfragen, Statistiken und Studien deutlich machen, dass nur der begangene Weg als logisch und sinnvoll habe erachtet werden können. Einwände, Alternativen hätten bestanden, doch seien diese leider nicht genügend durchdacht und bedauerlicherweise auch nicht einleuchtend und stichhaltig genug eingebracht worden. Klar hätten sie geäusserte Sorgen stets ernst genommen. Doch seien ihnen oft halt auch die Hände gebunden gewesen. Man müsse schon sehen, dass, im Sinne der Sache, immer wieder grosse Anstrengungen unternommen worden seien. Und man dürfe nicht vergessen, dass dieses dienende Wirken auch Kraft gekostet habe. Der erfahrene Widerstand, der sich darin zeigte, dass Leute mehr Wirkung und sichtbare Veränderungen monierten, sei den selbstlosen Bestrebungen auch nicht gerade förderlich gewesen. Man könne es drehen, wie man wolle, würden diese Leute sagen, die Entscheidungen seien nicht grundsätzlich falsch gewesen. Darum dürfe man jetzt nicht das Kind mit dem Bad ausschütten und kurzsichtige und übereilte Lösungen anpeilen. Es brauche Zeit, Meinungen und Ansichten könnten sich nicht über Nacht verändern. Es brauche gesicherte Grundlagen, Studien und fundierte Einschätzungen von Experten, um entsprechende Handlungsperspektiven zu entwickeln.
Es liesse sich wohl, mit dem einen oder anderen angepassten Vorgehensschritt, behütet und begleitet, der eine oder andere Versuch wagen. Wir müssten jedoch vorsichtig sein! Wir seien es der dösenden Bevölkerung schuldig, nur sachte und in homöopathischen Dosen Weck- und Umdenksignale zu senden. Das würden diese Leute, fürsorglich und wohlwollend, anmerken wollen. Das Volk müsse überzeugt sein, dass Nötiges auch realisierbar sei und sie sicher sein könnten vor irgendwelchen Hauruckübungen und einstürzenden Ringmauern. Denn: Sie werden nichts falsch gemacht haben.
Es ist der Abend, an dem das Klimaschutz-Gesetz von der Schweizer Bevölkerung angenommen wird. Das Parlament hat eine Initiative mit klaren Zielen und tiefgreifenden Handlungsfolgen, die Verzicht und Verbote gefordert hätte, umgeschrieben in ein Gesetz, das Anreize und Subventionen verspricht. Hat funktioniert. Immerhin 3 von 5 Schweizer:innen sagen ja. Das Netto-Null-Ziel für 2050 steht. Ob es erreichbar ist ohne Verbote und schmerzhafte Einschränkungen? Ich habe meine Zweifel. Egal. Schönreden und Rausstehlen? Irgendwie? Wir werden es sehen. Schweizer Machart.
Denn: Sie werden nichts falsch gemacht haben.
Anpacken und Ausprobieren
Das Buch „Utopien für Realisten“ liegt noch auf dem Tisch. Ich nehme einige Gedanken aus dem Buch auf. Es sind vor allem die Schlussbemerkungen, die Mut machen sollen, Ideen, für die die Zeit gekommen ist, stetig und konsequent in der Diskussion zu halten. Spannend wird es, wenn es gelingt, umspannende und übergreifende Themen am Laufen zu halten und Umsetzungen zu erwirken. So soll nicht zum xten Mal am Sozial-, Renten-, Gesundheits- und Bildungswesen geschraubt und „nachgebessert“ werden, sondern mit einem Grundeinkommen eine Basis geschaffen werden kann, damit Menschen in erster Linie ein Recht auf Leben und Dasein und nicht eine Pflicht auf Arbeit und Konsum haben.
Dass uns Utopien, also von breiten Bevölkerungskreisen als unrealistisch unvernünftig und zu radikal angesehene Ideen, immer wieder zu wichtigen und im Nachhinein völlig vernünftigen Veränderungen geführt haben, ist ein Fakt. Denken wir nur an die Abschaffung der Sklaverei, an das Wahl- und Stimmrecht für Frauen, an die Einführung von Demokratien, an die Rechte für Arbeiter und Kinder, an die 5-Tage-Woche, an die Homosexuellenehe etc.
Leute, die das mal wollten, wurden für verrückt erklärt. Genau! Ver-rückt in der Spur, nicht mehr auf dem normalen Denkgleis unterwegs. Heute sind diese revolutionären Gedanken Realität. Und die meisten auch Normalität.
Das Wort „utopia“ bedeutet sowohl „guter Ort“ als auch „Nichtort“. Utopien können also Leitsterne hin zu neuen Kontinenten sein. Wir brauchen diese alternativen Horizonte, um unsere Fantasie anzuregen. Rutger Bregman schreibt denn auch: „Eines steht fest: Ohne all die idealistischen Träumer, die es zu allen Zeiten gab, wären wir immer noch arm, hungrig, schmutzig, ängstlich, dumm, krank und hässlich. Ohne Utopie sind wir verloren. Nicht, dass die Gegenwart schlecht wäre, im Gegenteil. Aber es ist eine freudlose Gegenwart, wenn wir nicht darauf hoffen dürfen, dass die Zukunft besser sein wird.“ Und er fügt eine Aussage des britischen Philosophen Bertrand Russel an, wonach der Mensch zu seinem Glück nicht nur diesen und jenen Genuss brauche, sondern auch Hoffnung, neue Unternehmungen und Veränderung.
Die Hinführung und Erläuterung der erwähnten und von ihm akribisch untersuchten und beleuchteten Themen sind Utopien, die auch mich durchs Leben begleiten. Warum machen wir Daseinsberechtigung nach wie vor so stark abhängig von der Arbeit? Warum ist schon die deutliche Reduzierung der Arbeitszeit ein Horrorszenario für Wirtschaft und Politik? Warum sind Grenzen weiterhin so wichtig, vor allem auch für uns Schweizer:innen?
Es geht immer wieder ums gleiche: Um Macht! Die Macht, über andere zu verfügen. Die Macht, andere zu manipulieren, abhängig, hilflos und steuerungswillig zu halten. Moderne Sklaverei, eine Diskriminierung von bedingungslosem Lebensrecht. Angstmacherei und Abschottung.
Also haben wir es mit einer neuen Form von Sklaverei und Vorteilsnahme zu tun, die es zu bekämpfen gilt? Sind wir wirklich so viel weiter in Sachen Rechtstaatlichkeit, Gleichberechtigung und Gleichheit?
Bregman macht am Schluss zwei Anregungen, um Neues in die Welt bringen zu können. Als erste grosse Hürde sieht er den Umstand, dass man es schaffen muss, überhaupt nur schon einigermassen ernst genommen zu werden. Rasch werden neue Ideen als unrealistisch und schlicht nicht machbar abgetan. Er meint jedoch, dass die Ablehnung offenbar oft weniger mit Mängeln bezüglich Argumentation zu tun hat, sondern „unrealistisch“ für die Leute einfach meint, dass die Ideen schlicht unvereinbar sind mit ihrem Status quo und ihrem aktuellen Denkschema. Darum werden Utopist:innen und Visionäre mit solch angeblich „unrealistischen“ Ideen gerne einfach als dumm bezeichnet und so möglichst mundtot gemacht.
Gleichwohl und gerade darum: Es braucht Vorreiter:innen, Orte, wo die Utopie im Kleinen geprobt und gelebt wird. Und es muss darüber gesprochen werden. Im konstruktiven Diskurs. Und es braucht einen langen Atem und eine dicke Haut. „Lassen wir uns nichts einreden“, ruft Rutger Bregman Erneuer:innen zu.
Denn: „Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir unrealistisch, unvernünftig und ungehörig sein.“