Lernen ist ein unbewusster Akt. Oft. Das Lernen kann jedoch auch sehr bewusst und gezielt passieren. Logisch! Und muss nichts an seiner Natürlichkeit verlieren. Logisch? Niemand hat mich beauftragt oder mir die Aufgabe erteilt, genauer zu erkunden, was Länder wie Bosnien und Herzegowina so ausmachen. Kein Müssen, dafür Wollen. Interesse. Und die Bereitschaft, einzutauchen in die Thematik, zu durchdringen was vorerst unverständlich ist, zusammen zu bringen, was mir ein Bild geben kann. Ich lerne noch. Immer wieder. Dieser Blog ist Teil einer Travelstory. Und einer Lernstory. Durchs Leben und durchs Lernen. Ohne Stress. Mit viel Freude - natürlich auch am Reisen.
Olympisch 1984
Wir sprechen über Bosnien. Und Herzegowina. Genau. Der Nachbarstaat von Kosovo, Serbien, Montenegro, Kroatien. Eines unserer Reiseziele auf der nun bald zu Ende gehenden Balkantour. Bosnien ist der nördliche Teil, Herzegowina der südliche. Etwas älteren Generationen sagt der Name Sarajevo vielleicht noch etwas. Ja? Das war doch die Olympiastadt im Jahr 1984, als sich das damalige Jugoslawien als Veranstalter einen Namen machte, die DDR zum ersten Mal die meisten Medaillen an Winterspielen holte (mit welchen Mitteln auch immer) und für die Schweiz Sportler:innen wie Michela Figini, Maria Walliser, Peter Müller und Max Julen triumphierten. Bedeutend? Mehr oder weniger. Sehr wohl aber für die Menschen der Region. Die Bedeutung bleibt hoch. Denn: Es ist eines der positiven Ereignisse, ein völkerverbindendes, das dem gegenüber steht, was ein paar Jahre später geschehen ist und die Menschen, die es überlebt haben, mit tiefen Wunden zurückgelassen hat.
Denn bald einmal wurde hier geschossen und gemordet.
Bemühungen und lange Schatten
Der junge Mann in Mostar, Maumer, und die junge Frau in Sarajevo, Katrin, die uns durch die Stadt und die Geschichte begleiten, betonen immer wieder, wie wichtig es auch für sie ist, dem Kriegstourismus etwas entgegen zu setzen und vor allem auch die prägende Geschichte aus vorderen Jahrhunderten und die aktuellen Bemühungen aufzuzeigen. Doch sie haben es schwer. Zu gross bleibt die Last, die Bürde, die auf Land und Menschen liegt. Muamer hat eine Vergangenheit als Flüchtling, verliess das Land auf abenteuerliche Weise mit seinen Eltern im Krieg. Er landete in Graubünden, absolvierte hier die ersten Schuljahre, lernte deutsch und rätoromanisch. Stolz hat er uns sein Zeugnis gezeigt. Er kehrte zurück, im Bestreben, seiner Heimat beim Wiederaufbau zu helfen. Es stimmt ihn traurig und nachdenklich, dass jedes Jahr so viele junge Leute das Land verlassen und ihr Glück im Ausland suchen. Und wie uns Muamer erzählt, gehen sie nicht nur wegen der Arbeit, sondern auch, weil sie sich in diesem Land der Spannungen und zaghaften Fortschritte keine einigermassen sichere Zukunft vorstellen können. Sie halten diesen schwelenden Konflikt schlicht nicht aus, machen die ältere Generation verantwortlich, dass ein Lösungsprozess nur sehr langsam voran kommt.
Heute ist er Lehrer hier in Mostar, will bleiben, mithelfen, damit sich die Menschen vom linken Flussufer mit denjenigen des rechten weiter versöhnen und Diskriminierungen endlich ein Ende haben. Rührend, als uns unser Guide zu einer lebensgrossen Bronzestatue von Bruce Lee führt und uns voller Freude erzählt, dass Menschen in Mostar nach einer Figur suchten, die sowohl bei den Bosniaken wie auch bei Serben und Kroaten beliebt ist und so als Identifikationsfigur dienen könnte. Man kam auf Bruce Lee. Und liess die Statue in einem kleinen Park aufstellen. Der kleinste gemeinsame Nenner. Immerhin.
Orient und Okzident
Wir haben viele interessante und berührende Einblicke erhalten, erfahren, dass Bosnien und Herzegowina eben schon früh zur Schwelle zwischen Orient und Okzident wurden. In Mostar macht der Fluss die Grenze, in Sarajevo symbolisiert sie eine Markierung zwischen dem Bazar und Sultanviertel und den Häuserzeilen, die eindeutig auf die Österreicher zurückgehen. Und so sind Restaurants, die Sachertorte und Streuselkuchen anbieten und Shishabars, Kaffeestuben und gluschtige Baklavatheken nicht weit auseinander.
Wenn sich diese zwei Baustile irgendwie noch gut ergänzen, so führen uns die grobschlächtigen und zum Teil unförmigen Beton- oder heute Glasbauten aus der Zeit des brutalistischen Jugoslawiens eine ganz andere Baukultur vor Augen. Und in ein anderes Leben zurück. Katrin jedoch, eine junge Frau, in Deutschland aufgewachsen und hier in Sarajevo verheiratet, hat uns vor allem durch den älteren Teil der Stadt geführt. Da immer wieder andere Machtverhältnisse im Mittelmeerraum dazu führten, dass andere Besatzer ihre Gepflogenheiten und Einflüsse in die Region brachten, entstand ein wahres Gemisch aus fast allem. Nach den Griechen und den Römern folgte die Zeit der Christianisierung um die erste Jahrtausendwende. Die Osmanen herrschten als nächstes über 500 Jahre. Kaum befreit waren es dann Österreich-Ungarn und die Besatzer im 1. und 2. Weltkrieg, die sich des Landstrichs auf dem Balkan bemächtigten.
Ein Mix an Baustilen, Ethnien und Religionen
Eine wechselhafte Geschichte. All das hat Spuren hinterlassen. In der Kultur, bei den Glaubensformen, in den Bauweisen, im Sein der Menschen. Verschiedene Ethnien wurden an unterschiedlichen Orten immer wieder geächtet, vertrieben, verfolgt. Sogenannte Säuberungen und territoriale Machtansprüche waren der Hauptgrund für all die Grausamkeiten, die geschahen.
Auch im Bosnienkrieg. Wenn Minderheiten in Tito’s Jugoslawien noch geduldet waren, solange sie die Vormacht Belgrads anerkannten, entwickelten sich nach dem Tod des sozialistischen Führers Zerwürfnisse und Abspaltgelüste. Ethnische und religiöse Verschiedenheiten wurden zunehmend zum Problem und von allen Seiten hochgekocht. Tito hatte die Ausübung der unterschiedlichen Religionen noch stark eingeschränkt. Die Loslösung von Serbien, der Austritt aus dem Jugoslawischen Bund, hat dann auch Bosnien und Herzegowina in die Kriegswirren gestürzt. Zumeist albanischstämmige Muslime, die Bosniaken, standen serbisch- oder kroatischstämmigen Orthodoxen oder Katholiken gegenüber. Eine bosnische Armee musste nach der Erklärung der Unabhängigkeit überhaupt erst aufgebaut werden. Diese Armee war es dann, die die beiden Städte auch gegen all die Belagerer und vor allem gegen die jugoslawische Volksarmee unter Milošević verteidigt hat. Der Krieg war verheerend, das Leid, die Trauer und der Hass hängen nach wie vor wie eine dunkle Wolke über dem Land. Vieles liegt im Argen. Und doch: Neues Leben, Zuversicht wächst, wenn auch zögerlich. Gerade auch hier in Bosnien, in Sarajevo, oder eben in Herzegowina, in Mostar.
Und wir als Besuchende fragen uns:
Braucht es ein Vergessen, ein Wegkommen von diesen grausamen Geschehnissen, um eine Versöhnung zu finden? Oder braucht es diese ständige, niederdrückende, fast depressiv machende Erinnerung gerade, damit derartige Gemetzel nie mehr passieren? Es braucht wohl beides, wenn nicht mehr geschehen soll, was damals geschah. Es braucht die Zeugen dieser Zeit. Als Mahnmale, als Erinnerung. Es braucht Angebote zur Versöhnung. Und Menschen, die darauf eingehen wollen. Was es sicher nicht braucht, sind Menschen, die Öl ins Feuer giessen, den Nationalismus predigen, den Rechtspopulismus huldigen. Wie Alexander Vučić, der Präsident Serbiens. Er funkt dazwischen, wo er nur kann, zuletzt mit Deutlichkeit im Kosovo.
Dies gilt jedoch nicht nur für den Balkan. Der Siegeszug der rechtsextremen und nazifreundlichen AfD in gewissen Bundesländern Deutschlands lässt aufhorchen, der offene und diskriminierende Populismus, die Hetze der SVP in der Schweiz auch. Italien und Ungarn sind weitere Beispiele. Abschottung und Fremdenhass sind die Devise. Diese Elemente suchen das Trennende. Ein Miteinander baut jedoch auf dem Verbindenden auf. Hoffen wir, es möge den brückenbauenden Kräften in Bosnien und Herzegowina gelingen, eine Kultur der Versöhnung zu etablieren und dem noch jungen Staat die Kraft zu geben, die er braucht, um überlebens- und lebensfähig zu werden.
Unser Eindruck bleibt also etwas zwiespältig. Natürlich waren wir beeindruckt von den restaurierten Gebäuden, den Bazars und der Altstadt, sowohl in Mostar als auch in Sarajewo. Die Brücke in Mostar ist wieder ein Blickfang und well known. Die herausgeputzte und praktisch neu aufgebaute Altstadt angrenzend, mit vielen Souvenirläden und Restaurants, kommt mir vor wie ein Freilichtmuseum. Viele Touristen sind wie wir unterwegs.
Hoffnung, Zuversicht und Ruinen
Häuserruinen, zerschossene Fassaden, leerstehende Gebäude jedoch machen deutlich, dass der Wiederaufbau noch Zeit braucht. Oft ist es die fehlende Rendite, die die Rekonstruktion verhindert, oder korrupte Verstrickungen, oder behördliches Versagen und neue Formen der Behinderung und Diskriminierung. Das System behindert sich selber, Korruption ein latentes Problem. Wer vor allem auf diese Spuren fokussiert, kann sich rasch wieder gefangen fühlen in einer Art Hoffnungslosigkeit.
Kommt dann noch, wie bei uns in Sarajevo, anhaltender Regen dazu, wird vieles trist und grau. Und auch die umliegenden Berge bekommen etwas Bedrohliches. Vor allem, wenn man weiss, dass von dort herunter während der Belagerung und Einkesselung immer wieder Zivilisten Opfer von Scharf- und Heckenschützen geworden sind.
Die mit einer symbolisierten Rose und rot auflackierten Blutspritzern versehenen Tatorte in Sarajevo wirken gruselig und verstörend. Man schaut unweigerlich hoch, in die Berge, oder zu den Hochhäusern in näherer oder weiterer Umgebung. Es lässt sich nur erahnen, woher die tödlichen Schüsse wohl gekommen sind, durch die Menschen, die vielleicht nur einen Botengang zu erfüllen hatten, aus dem Leben gerissen wurden.
Herkunft und Balkan Blues
Ich habe im Verlauf unserer Reise zwei Bücher mit Balkanhintergrund gelesen.
Beide haben mir die Kultur und die Schicksale von Menschen aus Bosnien näher gebracht. Die Geschichten haben mit Menschen zu tun, die im Krieg flüchten mussten und auf unterschiedliche Weise wieder Zugang zu ihrem Heimat - oder Herkunftsland gesucht und zum Teil gefunden haben. Herkunft oder Heimat? Diese Begriffe bringt Saša Stanišić in seinem Buch immer wieder ins Spiel. Im Klappentext ist unter anderem zu lesen:“Herkunft ist ein Buch über meine Heimaten, in der Erinnerung und der Erfindung. „Herkunft“ ist ein Abschied von meiner Grossmutter. Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre. Herkunft ist traurig, weil Herkunft für mich mit dem zu tun hat, das nicht mehr zu haben ist.“ Ein Roman mit autobiografischen Elementen, der Einblicke in die Seele und das Denken bosnischer Menschen gibt. Und der mir auch etwas abverlangt hat . Mit seinem kaleidoskopischen Blick in die Äste seiner Familiengeschichte, durch unterschiedliche Geschehnisse und Zeiten hindurch, war meine Bereitschaft, wirklich dran zu bleiben, echt gefordert.
„Herkunft“ von Saša Stanišić, erschienen 2019 im Verlag Luchterhand
Das andere Buch ist von einer jungen Frau, Elvira Mujčić, geschrieben, ebenfalls mit Flüchtlingshintergrund, ebenfalls in Bosnien beheimatet und in Italien aufgewachsen. Die Geschichte hat etwas tragisch-komisches und beschreibt kurzweilig und humorvoll, wie Laina und ihre Brüder ihrer toten Grossmutter den letzten Wunsch erfüllen wollen und eine Überführung in ihre Heimat und eine muslimische Beerdigung in Srebrenica bewerkstelligen. Die Reise ist voller Hindernisse und gibt einen Eindruck davon, wie es sein muss, auf der Suche nach Identität in die ehemalige Heimat zurückzukehren.
„Balkan Blues“ von Elvira Mujčić, erschienen 2019 im Verlag btb
Die Führungen, die wir direkt im Internet auf privater Basis gebucht haben, dauern je etwa drei Stunden. Wir sind beeindruckt und voller Eindrücke und Informationen. Da wir nun schon länger im Balkan unterwegs sind, können wir Vieles einordnen und in Zusammenhang bringen. Eine Vielzahl von Fragen werden uns zudem beantwortet. Speziell angetan sind wir von der Leidenschaft und von der Begeisterung, mit der sowohl Muamer wie auch Katrin uns ihren Lebensort präsentieren.
Gerade auch bei Katrin in Sarajevo hat stark mitgeschwungen, was sie und ihr Partner auf ihrer Website ins Zentrum von ihrem Tun stellen:
“Ćejf” ist ein umgangssprachlicher Ausdruck in Bosnisch, der aus dem Türkischen stammt und in den Balkanländern gebräuchlich ist. Es wird verwendet, um das Gefühl von Genuss, Vergnügen oder Wohlbefinden auszudrücken. Es kann bedeuten, dass man etwas geniesst oder sich entspannt fühlt. Es ähnelt dem deutschen Wort “Genuss” oder “Vergnügen”. Beschreibung laut Nova.
Ich denke, das ist es, was Vergessen und Erinnern in friedlicher Weise miteinander verbinden kann. Es ist der gemeinsame Genuss, das geteilte Vergnügen. Und es sind die kleinen Momente des Glücks, die das Leben lebenswert machen.
Vielen Dank für die tollen Führungen:
Mostar: Muamer Hujdur / https://www.guidebooker.com/guide-suche/GSearch?action_doSearch=Suchen&Search=&KategorieID=&Country=&City=Mostar
Sarajevo: Ceyf, deutsche Stadtführung / https://cheyf.ba/product/deutsche-stadtfuehrung-sarajevo/